Ohrenbetäubendes Schweigen – die Fantasien und Kalkulationen der Angreifer

Anfang April erhielt die New York Times ein Video von einem UN-Diplomaten. Aufgenommen wurde es am am frühen Morgen des 23. März 2025 im Süden von Rafah. Es zeigt klar markierte Krankenwagen und ein Feuerwehrfahrzeug. Die Fahrzeuge schleichen nicht getarnt durch die Nacht, sondern fahren mit Licht. Auch die Rettungskräfte tragen Uniformen. Die Rettungskräfte halten an der Stelle eines liegen gebliebenen Wagens, um dort ihre Hilfe anzubieten. Doch dann eröffnen israelische Sicherheitskräfte das Feuer.

Die Vorgehensweise der Israelis ist typisch. Sie setzten sie beispielsweise in den Operationen „Gegossenes Blei“ (2008/2009) und „schützender Felsvorsprung“ (2014) ein. Darüber berichtete dieser Blog: Zuerst beschießen israelische Sicherheitskräfte palästensische Zivilisten. Arabische Krankenwagen und palästinensisches Rettungspersonal versuchen dann die Verletzten zu bergen. Doch gerade auf diese Bergungsmannschaften eröffnen israelische Soldaten erneut das Feuer.

Beten im Angesicht des Todes

Der Sanitäter, der im Video zu hören ist, deklariert immer wieder „shahada“, einen muslimischen Ausdruck des Glaubens, den Menschen im Angesicht des Todes rezitieren. „Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Bote“, hört man den Sanitäter sprechen. Er bittet um Vergebung und sagt, er wisse, dass er sterben wird. „Vergib mir Mutter, dies ist der Weg, den ich wählte, Menschen zu helfen“, sagt er. „Gott ist groß.“ Die Sprecherin des Palästinensischen Roten Halbmonds, Nebal Farsakh, sagte in einem Interview in der Stadt Ramallah im Westjordanland, dass der Sanitäter, der das Video gefilmt hatte, später mit einer Kugel im Kopf in einem Massengrab gefunden wurde.

Der israelische Ansturm auf den Gazastreifen geht unvermindert weiter. Die genozidalen Aussagen und Lügen israelischer Politiker und Soldaten, die menschen-verachtenden Aktionen der IDF, ihre Unterstützung durch die israelische Zivilgesellschaft und das ohrenbetäubende Schweigen der führenden Industrienationen zu den Massakern im Gazastreifen finden kein Ende. Von Spanien, Irland oder auch der Türkei und Russland kam Kritik an der israelischen Vorgehensweise. Doch kein Staat hat bisher auf diplomatischen Wege, sei es in Form von Anreizen oder in Form von Druckmitteln, effektiv Israel an seinen genozidalen Operationen gehindert, wenngleich die USA unter Trump im Januar 2025 einen auf zwei Monate befristeten taktischen Waffenstillstand erzwangen.

Offenbar sind Hisbollah und die jemenitische Ansar Allah Bewegung die einzigen Kräfte, die ihren Worten auch Taten folgen lassen, die ernsthaft bestrebt sind, Israel von seinem Vorhaben der ethnischen Säuberung des Gazastreifens abzuhalten. Die Angriffe der „Houthis“ beschädigen zwar mehr die Weltwirtschaft als die israelische Wirtschaft, doch sie erschweren ein geordnetes ziviles Leben in Israel. Aber auch sie haben bisher nicht die Massaker im Gazastreifen verhindern können.

Vermeintliche Proteste gegen Hamas

Die Proteste der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen richteten sich gegen die ethnischen Säuberungen und das sinnlose Sterben, nicht gegen Hamas. Doch israelische und westliche Medien stellten diese im März so dar, als wären sie gegen die regierende Hamas organisiert. Dabei ist Hamas bereit, den Gazastreifen nicht mehr weiter zu regieren und den Waffenstillstand aufrechtzuerhalten.

Angriffe gegen die Zivilbevölkerung als notwendige Befreiungsschläge

Das ist die Fantasie jedes angreifenden Staates: Er tritt als „Befreier“ auf und die geschundene Bevölkerung im angegriffenen Gebiet stellt sich gegen ihre Obrigkeit,
also gegen diejenigen, die ihnen diesen Angriff vermeintlich eingebrockt haben. In dieser Logik ist der Angreifer ein bloß zwangsläufig Reagierender, der Angegegriffene dagegen ist der eigentlich agierende Verantwortliche.

Ein ähnliches Muster lag der Kalkulation der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zugrunde als sie deutsche Städte ausradierten. Die Briten meinten die deutsche Zivilbevölkerung sei auch für den Krieg verantwortlich, im Sinne des „Moral Bombing“ sollte sie deswegen bestraft werden. Auch gab es die Annahme, die deutsche Bevölkerung werde dann gegen ihre Führer rebellieren. Doch der Bombenterror stärkte letztendlich den Widerstandwillen. Die deutschen Führungseliten glaubten noch im Frühjahr 1941 Russland sei ein „Riese auf tönernen Füßen“. Es gelte, auf Russlands Angriffsvorbereitungen zu reagieren, es in einem rigorosen Feldzug schnell niederzuwerfen und vom Bolschewismus zu befreien. Doch schon im Dezember 1941 folgte die Ernüchterung.

Zu Beginn der Kampfhandlungen im Irak im Jahre 2003 verkündete US-Präsident Bush in einer Radioansprache am 20. März 2003, dieser Angriff der Koalitionstruppen diene der „Sicherheit der Nationen“ und dem „Weltfrieden“. Man wolle „Iraks Massenvernichtungswaffen entfernen, Saddams Husseins Unterstützung für den Terrorismus beenden und die Iraker befreien“. Statt den Irak zu befreien zerstörten die Koalition den Irak, wie der Publizist und Sachbuchautor Geoff Simons ausführlich darlegte. Ähnliche Fantasievorstellungen hatte auch die Führungsregie Russlands bevor die russischen Streitkräfte in der Ukraine einmarschierten. Sie würden das Land binnen Tagen niederwerfen, die geknechteten Ukrainer vom Nazismus befreien und den Osten der Ukraine vor dem drohenden Völkermord schützen. Es stellt sich dann aber regelmäßig heraus, dass diese Annahmen entweder bewusst als Propaganda in Umlauf gesetzt werden oder einer Täuschung entspringen. Je brutaler und kompromissloser der Angreifer vorgeht, desto mehr solidarisieren sich die Angegriffenen.


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