Die Leser dieses Blogs mögen sich fragen, warum sich seit einigen Monaten die Beiträge mit den Ereignissen im Gazastreifen befassen. Hat der Blogschreiber nicht in früheren Beiträgen über viele andere Dinge geschrieben? Gibt es weltweit nicht auch andere Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen, über die zu berichten wichtig wäre? Ja, dies ist sicherlich der Fall. Doch die Geschehnisse in Gaza stechen aus verschiedenen Gründen aus dem weltweiten Konfliktgeschehen hervor.
Das „Stockholm International Peace Research Institute“ (SIPRI, deutsch: Stockholmer Institut für Internationale Friedensforschung) befasst sich mit weltweit auftretenden gewaltsamen Konflikten und mit den Bedingungen von Sicherheit und Frieden. Es erhebt Daten zum globalen Waffenhandel und zu staatlichen Rüstungsausgaben.
Das SIPRI spricht in seinem aktuellen Bericht aus dem Jahre 2024 von weltweit 52 bewaffneten Konflikten in und zwischen Staaten, die sich im Jahre 2023 ereigneten. Zwar gehe die Zahl dieser Konflikte im Vergleich zum Vorjahr zurück, im Jahre 2022 waren es 55, doch die Anzahl der Konflikte mit einer hohen Zahl von Todesopfern sowie jene mit hoher Intensität steige:
„Obwohl die Zahl der Staaten mit bewaffneten Konflikten von 55 im Jahr 2022 auf 52 im Jahr 2023 zurückging, stieg die geschätzte Zahl der konfliktbedingten Todesopfer weltweit von 153 100 im Jahr 2022 auf 170 700 im Jahr 2023 und erreichte damit den höchsten Stand seit 2019. Im Jahr 2023 gab es vier Konflikte, die als größere bewaffnete Konflikte eingestuft wurden (d. h. Konflikte mit 10 000 oder mehr konfliktbedingten Todesopfern in dem Jahr), also einen mehr als 2022: die Bürgerkriege in Myanmar und Sudan sowie die Kriege zwischen Israel und Hamas und Russland und der Ukraine. Die Zahl der bewaffneten Konflikte hoher Intensität (d. h. Konflikte mit 1000-9999 konfliktbedingten Todesopfer) ist ebenfalls gestiegen, von 17 im Jahr 2022 auf 20 im Jahr 2023.“ (Übersetzung aus dem Originaltext)
Übersetzung aus dem Originaltext (Summary, Yearbook 2024, S. 2)
Zudem kam es nach Untersuchungen von SIPRI auf anderen Schauplätzen zu einem bemerkenswerten Anstieg von konfliktbedingten Todesfällen im Vergleich zum Vorjahr: im Sudan (+ 537%), in Burkina Faso (+ 100%) und in Somalia (+ 28 Prozent).
Nach offiziellen Angaben hatte Israel laut SIPRI gegen Ende des Jahres 2023 bereits mehr als 22000 Palästinenser im Gazastreifen getötet. Das sind etwa 13 Prozent von allen Todesfällen, die das Institut in bewaffneten Konflikten in und zwischen Staaten im Jahr Jahre 2023 erfasste.
In Bezug auf das Ausmaß und die Dauer verblassen die Ereignisse im Gazastreifen seit dem 7. Oktober jedoch gegenüber den großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts oder den Kriegen im Irak und in Syrien in diesem Jahrhundert, kaum jedoch in Bezug auf die asymmetrische Kriegsführung und die Intensität, mit der eine gut ausgerüstete, staatlich organisierte Armee eine hilflose Zivilbevölkerung, für die keine Luftschutzkeller existieren, massakriert: aus der Luft mit Raketen oder Gleitbomben, oder mit Panzergranaten und Artilleriemunition; mit der diese Armee mit modernsten Waffen lose organisierte Verbände von fest entschlossenen Widerstandskämpfern wie Ungeziefer bekämpft. Die Geschehnisse im Gazastreifen gleichen eher der Niederschlagung eines Gefängnis- oder Konzentrationslager-Aufstandes als einer kriegerischen Auseinandersetzung.
Doch hinsichtlich der Intensität, des Ausmaßes an Gewalt und der Länge der Auseinandersetzungen überschatten die Verwüstungen und Massaker im Gazastreifen bereits jetzt alle Konflikte im Nahen Osten, in denen Israel unmittelbar beteiligt war. Seit der Nakba gab es keine derart intensiven, umfassenden, willkürlichen und unverhältnismäßigen Angriffe der IDF gegen palästinensische Zivilisten. An zweiter Stelle kommt die israelische Invasion des Libanons im Jahre 1982, der etwa 20 000 Menschen zum Opfer fielen.
(Willyalfredo) Iran’s response to Israel is coming, with Mohammad Marandi.
Auch in der öffentlichen Wahrnehmung fallen die Ereignisse in Gaza aus dem üblichen Rahmen. Der Iraner Mohammad Marandi, ein politischer Kommentator und Professor für englische Literatur, behauptet, die Ereignisse im Gazastreifen seien in gewisser Weise „das größte Verbrechen, dass die Welt jemals gesehen hat“ (im Video etwa 21.00). Damit meint er Folgendes: Zwar gab es in der bisherigen Geschichte Völkermorde. Aber die allgemeine Kenntnis über sie war nicht zum Zeitpunkt ihres Auftretens gegeben.
„das größte Verbrechen, dass die Welt jemals gesehen hat.“
Doch mittlerweile, spätestens nach der Beantragung von Haftbefehlen durch den Internationalen Strafgerichtshofes im Mai 2024 gegen die Drahtzieher der Auseinandersetzung im Gazastreifen, dürfte der Weltöffentlichkeit klar sein, was sich in Gaza ereignet. Zwar haben die etablierten Medien Verbrechen gegen die Menschlichkeit und die Bilder der Angriffe gegen eine Zivilbevölkerung als Anti-Terror-Maßnahmen verkauft. Aber inzwischen hat sich die Berichterstattung geändert; zumindest Teile der etablierten Medien übernehmen nicht mehr ungefragt das israelische Narrativ.
Auch konnte man bereits seit dem dem 7. Oktober verschiedene Quellen heranziehen. Damit haben die Medien noch nie – in einem solchen Ausmaß und über einen derart langen Zeitraum – gezeigt, mit welchen drakonischen Maßnahmen eine staatliche Armee gegen eine, auf einem kleinen Landstrich gefangene Zivilbevölkerung vorgeht: durch unverhältnismäßige Attacken auf die Infrastruktur, die Zerstörung von kulturellen Einrichtungen, Schulen, UN-Einrichtungen, Moscheen, Kirchen, Krankenhäusern, die Hinrichtung von Journalisten, durch Aushungernlassen und durch das bewusste Inkaufnehmen der Verbreitung von Seuchen. Wir werden täglich mediale Zeugen dieser Verbrechen. Aber die Täter und ihre Unterstützer, Marandi spricht von der „Achse des Völkermordes“, kommen ungestraft davon, sieht man einmal von den Angriffen der Houthis im Süden und denen von Hisbollah im Norden von Israel ab.
Damit zeigt dieser Konflikt die Heuchelei und Doppelmoral von Israel und seiner Verbündeten in noch nie da gewesener Weise: Sie geben vor, ernsthaft an einem Waffenstillstand interessiert zu sein, ja sogar, Druck auf beide Seiten auszuüben, geben in Wirklichkeit Israel nach und lassen es weiter ungestraft agieren. Sie beklagen den Verlust von medizinischem Personal und Journalisten, von verhältnismäßig wenigen Menschen, wenn diese den richtigen Pass haben, also einen Ausweis aus einem europäischen Staat, aus Israel oder aus den USA, tolerieren aber die Massaker im Gazastreifen, denen zehntausende von Zivilisten zum Opfer fallen. Sie sprechen von der Notwendigkeit von Völkerverständigung und multikultureller Gesellschaft, beziehen sich dabei aber nur auf das Inland, unterstützen jedoch einen Staat, der von der ethnischen Überlegenheit seiner Bewohner ausgeht. Sie fordern Rechte von Frauen ein, dulden es jedoch, wenn Vertreter dieses Staates palästinensische Frauen zu tausenden hinrichten, misshandeln oder verhungern lassen.
Schreibe einen Kommentar