Realitätsverweigerung der FAZ

Nikolaus Busse (FAZ),

21.5.2024 Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs übergeht den israelischen Rechtsstaat, sein Vorgehen wirkt politisch motiviert. Die Gegner internationaler Organisationen haben ein neues Argument. Dass der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs „einer der großen Antisemiten der Neuzeit“ sei, wie Netanjahu sagt, ist ein maßloser Vorwurf.

Da fallen einem andere historische Gestalten ein als dieser britische Jurist. Aber die Äußerung gibt Einblick in die Gefühlswelt, die nicht nur der Ministerpräsident haben wird, wenn Israel vor einem internationalen Gericht praktisch auf dieselbe Stufe gestellt wird wie die Hamas, deren Verbrechen am 7. Oktober die Ursache für den Krieg sind.

Die Weltöffentlichkeit hat die Unterschiede zwischen dem angegriffen demokratischen Staat und einer ­islamistischen Terrorbande, die gezielt ihre eigene Bevölkerung opfert, rasch übersehen. Ein Gericht, das auf den Grundsätzen der UN gegründet wurde, sollte es nicht tun.

Strafverfahren gegen Netanjahu

Karim Khan übergeht vor allem den israelischen Rechtsstaat. Dass die nationale Gerichtsbarkeit Vorrang hat, ist einer der wichtigsten Grundsätze für die Arbeit des Gerichtshofs. Israel gehört nicht zu den Ländern, in denen davon auszugehen ist, dass die Justiz im Grundsatz versagt oder politisch gesteuert wird. Dort musste schon ein früherer Ministerpräsident ins Gefängnis, gegen Netanjahu läuft ein Strafverfahren, und es gab durchaus Prozesse gegen Militärangehörige.

Da Khan von Den Haag aus nicht ausreichend beurteilen kann, was in einem so komplexen Kriegsgeschehen wie in Gaza vor sich geht, erscheint sein Vorgehen auch politisch motiviert: Die internationale Meinung ist geteilt, mehrheitlich sogar gegen Israel eingestellt, also beantragt er Haftbefehle gegen beide Seiten. Die großen Mächte, von Amerika bis China, sind dem Strafgerichtshof ferngeblieben oder haben ihre Unterschrift zurückgezogen. Sie werden sich bestätigt fühlen. Auch Israel war zu Recht misstrauisch, wie sich jetzt zeigt. Der Beitritt „Palästinas“ vor neun Jahren war eine zweifelhafte Entscheidung, die Staatlichkeit der Gebiete ist bis heute fraglich. Die Gegner internationaler Organisationen, deren Zahl auch in Deutschland zunimmt, haben einen Punkt mehr auf ihrem Sprechzettel.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/haftbefehl-gegen-netanjahu-israel-ist-nicht-die-hamas-19734066.html

Nein, Israel ist nicht die Hamas. Wie kann ein Land auch dasselbe sein wie eine Organisation? Doch die Vertreter Israels und des Gazastreifens lassen sich miteinander vergleichen. Beide haben Verbrechen begangen, wobei die schwerwiegenderen auf das Konto der Vertreter Israels gehen. Die Beantragung eines internationalen Haftbefehls durch den Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) A.A. Khan gegen drei Führer der Hamas sowie gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Galant verharmlost den Umfang der israelischen Verbrechen. Denn der Antrag nennt die Hamas-Vertreter zuerst, erst in späteren Absätzen erscheinen die Namen Netanjahu und Galant. So kann der Eindruck eines Ursache-Wirkungsverhältnisses entstehen. In Wirklichkeit verübten israelische Soldaten bereits vor dem 7. Oktober eine Reihe von Verbrechen an der palästinensischen Bevölkerung.

Es gibt sogar Autoren, die davon ausgehen: Die Attacken am 7. Oktober waren eine False-Flag-Operation, die Israel bewusst geschehen ließ, um einen Vorwand für die ethnische Säuberung des Gazastreifens zu haben. Nach dieser Lesart habe der Internationale Strafgerichtshof durch seine Anschuldigungen der palästinensischen Führer Israel Gründe für den sich abzeichnenden Völkermord in die Hand gegeben. Auch wenn der Antrag in mancher Hinsicht sehr problematisch ist, spricht allerdings für ihn, dass mit ihm endlich israelische Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden sollen.

Doch etablierte westliche Journalisten, insbesondere in Deutschland, können oder wollen immer noch nicht begreifen, dass Israel Kriegsverbrechen begeht und dass sein Justiz-System, wenn es um Verbrechen gegen Palästinenser geht, nicht funktioniert. Es reicht nicht, wenn Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof eine einstweilige Verfügung beantragt, mit der Begründung, dass Israel einen Völkermord verübe. Es reicht auch nicht, wenn Nicaragua Deutschland beim IGH anklagt und behauptet, es leiste durch seine Unterstützung Israels „Beihilfe zum Völkermord“ an den Palästinensern. Offenbar ändert auch der Antrag des IStGH-Anklägers A.A. Kahn gegen Benjamin Netanjahu und Joaw Galant nichts an der Realitätsverweigerung etablierter Journalisten.

Immer wieder bemühen Journalisten und israelische Politiker das Antisemitismus-Narrativ. Nikolaus Busse, seit 2021 in der F.A.Z. verantwortlich für Außenpolitik, unterstellt A.A. Kahn eine „politische Motivation“. Der Antisemitismusvorwurf oder auch der Vorwurf der politischen Motiviertheit soll Kritik am Staat Israel verhindern. Dies ist zunächst einmal ein ad hominem Argument, dass an der Sache vorbei geht.

Die Gefahr solcher Vorwürfe liegt darin, dass sie bestehende Vorurteile gegen Juden bestätigen und damit Antisemitismus salonfähig machen. Doch seltsamerweise hört man wenig von Antisemitismus, wenn es um die Bestrafung von Leuten wie Harvey Weinstein oder Bernie Madoff geht. Hier ist offenbar die Öffentlichkeit bereit, eine rechtliche von einer weltanschaulichen Frage zu trennen. Während sich die eine auf die tatsächlichen Handlungen des Angeklagten bezieht, geht es bei der anderen um Weltanschauung, um die Gesinnung des Anklagenden.

Doch im Falle des Kollektivs Israels funktioniert diese Trennung in der Öffentlichkeit nicht. Denn zum einen leben in den besetzten Gebieten „nur“ Menschen zweiter Klasse, die zu tausenden hingerichtet werden können, ohne dass dies unter westlichen Regierungschefs, die sich im Inland gerne als ausländerfreundlich gebärden, als großes Problems gilt, und zum anderen steckt hinter dem Staat, der diese Massaker verübt, eine mächtige Lobby, insbesondere in den USA.

Aber es sollte in einem Kommentar einer führenden deutschen überregionalen Tageszeitung zum Antrag auf einen Haftbefehl nicht darum gehen, Antisemitismus oder eine bestimmte Gesinnung des Fragestellers nachzuweisen, sondern allenfalls darum, ob die Beantragung eines solchen internationalen Haftbefehls gegen Personen, denen das Gericht vorwirft, Verbrechen begangen zu haben, gerechtfertigt ist. Nikolaus Busse schreibt, Khan könne “von Den Haag aus nicht ausreichend beurteilen …, was in einem so komplexen Kriegsgeschehen wie in Gaza vor sich geht”. Offenbar hat Busse den Antrag nicht richtig gelesen. Darin schreibt dieser, er habe die betroffenen Gebiete selbst besucht und sich auch dort ein Bild gemacht.

Der Beitrag von Nikolaus Busse enthält mehrere Ungereimtheiten. Die Verbrechen der Hamas am 7. Oktober seien Ursache für den Krieg. Bereits UN Generalsekretär Antonio Guterres meinte, der Überfall am 7. Oktober habe nicht im Vakuum stattgefunden. Die Ursachen der israelischen Massaker liegen woanders. Aus zahlreichen Aussagen führender israelischer Politiker der vergangenen Monate, aber der vergangenen Jahre und Jahrzehnte, und einem bereits im Oktober 2023 geleakten Regierungsdokument geht klar hervor, dass die Präferenzen der radikalen israelischen Regierung in der ethnischen Säuberung des Gazastreifens liegen.

Deutsche Journalisten bezeichnen Hamas regelmäßig als „Terroristen“, Nikolaus Busse als „Terrorbande“. Für den Begriff „Terrorismus“ gibt es verschiedene Definitionsversuche. Dies hat dieser Blog bereits an anderer Stelle thematisiert: im Zusammenhang mit der sich fortsetzenden Zerstörung des Gazastreifens und der dortigen Lebensgrundlagen.

Dennoch soll es im Folgenden noch einmal um eine Einordnung des Phänomens „Terrorismus“ gehen. Walter Lacquer, ein konservative amerikanischer Historiker und Publizist deutsch-jüdischer Herkunft, hat sich in einigen Büchern mit diesem Phänomen befasst. Als eine Art Minimaldefinition stellt er in seinem 1998 erstmals erschienenen und 2001 aktualisierten Buch “Die globale Bedrohung” folgenden Versuch vor: “Anwendung von Gewalt durch eine Gruppe, die zu politischen oder religiösen Zwecken, gewöhnlich gegen eine Regierung, zuweilen auf gegen andere ethnische Gruppen, Klassen, Religionen oder politische Bewegungen vorgeht.” (S. 44). Diese Definition geht allerdings nicht auf das Problem ein, ob politischer oder militärischer Widerstand gegen eine tyrannische Regierung, wie ihn etwa der ANC in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Südafrika ausübte, auch unter die Kategorie „Terrorismus“ fällt. Zweitens geht sie auch nicht auf die Problematik des sogenannten “Staatsterrorismus” ein. Auch eine Regierung ist eine Gruppe von Personen, die im Sinne dieser Definiton Gewalt ausüben kann. Es gibt, wie Südafrika nachgewiesen hat, genügend Belege dafür anzunehmen, dass dies bei der israelischen Regierung der Fall ist.

Israel gehöre „nicht zu den Ländern, in denen davon auszugehen ist, dass die Justiz im Grundsatz versagt oder politisch gesteuert wird.“ Hat die israelische Justiz denn in Bezug auf die Militäroperation im Gazastreifen in den vergangenen sieben Monaten funktioniert? Welche ranghohen Politiker oder Militärs sind denn zur Rechenschaft gezogen worden? Dem Schreiber dieser Zeilen ist niemand bekannt. Zeugt es denn nicht andererseits vom Versagen des israelischen Rechtssystems, wenn israelische Politiker und Generäle, auch nach den einstweiligen Anweisungen des IGH (Urteil vom 26. Januar 2024), nach einer Resolution der UN-Generalversammlung, die einen sofortigen Waffesntillstand fordert, unbeeindruckt die Zerstörung des Gazastreifens und die Massaker an seinen Bewohnern fortsetzen sowie Hilflieferungen an die notleidende Bevölkerung verhindern?


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