Wenige Staaten kümmern sich um das Recht, viele zittern vor der Macht. Südafrika reichte einen 84 seitigen Antrag auf eine einstweilige Verfügung beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag (IGH) ein. Der IGH sollte dadurch Israel auffordern, von weiteren Angriffen auf den Gazastreifen abzusehen.
„In light of the extraordinary urgency of the situation, South Africa seeks an expedited hearing for its request for the indication of provisional measures. In addition, pursuant to Article 74(4) of the Rules of Court, South Africa requests the President of the Court to protect the Palestinian people in Gaza by calling upon Israel immediately to halt all military attacks that constitute or give rise to violations of the Genocide Convention pending the holding of such hearing, so as to enable any order the Court may make on the request for the indication of provisional measures to have its appropriate effects.“
Südafrikas Vertreter nahmen mit stichhaltigen Gründen mutig am 11. Januar Stellung gegen Israel vor dem IGH. Es konnte sowohl auf der inhaltlichen Ebene wie auf der rechtlichen Ebene überzeugen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die Richter, die auch unter politischem Druck stehen, zu einer gerechten Entscheidung kommen können.
Inhaltlich zeigte Südafrika die unverhältnismäßigen und wahllosen Zerstörungen von menschlichen Leben und Einrichtungen der israelischen Streitkräfte auf sowie die Aussagen israelischer Politiker und Militärs, die solche Zerstörungen willkommen hießen. Insbesondere die irische Anwältin Blinne Ní Ghrálaigh konnte die israelischen Massaker sowie schwere Verstöße Israels gegen humanitäres Völkerrecht nachweisen.
Wie reagierte Israel? Zunächst erinnert der israelisch-australische Anwalt Tal Becker an die Verfolgung und Ermordung der Juden in Deutschland. Stets war Südafrika die Zielscheibe, es habe die Ereignisse verzerrt dargestellt. Später versteckte sich Israel hinter Hamas. Denn gegen die – vor der Weltöffentlichkeit von der IDF geschaffenen – Zerstörungen und Massaker konnte es schwerlich argumentieren, versuchte diese aber allein Hamas anzulasten. Doch es ging in dem Verfahren weder um den Holocaust, noch um die Präsentationsweise der südafrikanischen Anwälte, noch um die Verfehlungen von Hamas, sondern um die Frage, ob begründeter Verdacht besteht, dass Israel in Gaza einen Völkermord begeht.
Der für Israel sprechende Anwalt und Rechtsprofessor Malcolm Shaw fragt, warum sich Südafrika auf eine 75 jährige Geschichte der Apartheid bezieht und den Zeitraum nicht 1922 beginnen lässt. Hierauf kann man leicht antworten: Damals gab es den Staat Israel noch nicht. Shaw meint, Hamas, vom Iran unterstützt, strebe einen Genozid des israelischen Volkes an, das habe man besonders am 7. Oktober gesehen. Israel habe das Recht auf Selbstverteidigung. An dieser Stelle betritt Shaw wieder einen Nebenschauplatz. Denn es geht hier weder um Hamas noch um Israels Rechte. Tatsächlich könnte man die Frage stellen, wie bereits in diesem Blog geschehen, ob es logisch möglich ist, dass sich eine Besatzungsmacht bei einem Angriff von Aufständischen auf das Recht auf Selbstverteidigung beruft.
Ferner vertrat Shaw die Ansicht, dass all die von Südafrika vorgetragenen genozidalen Aussagen israelischer Politiker und Militärs nicht von den tatsächlichen Entscheidern stammten. Seine Strategie bestand darin, nicht auf die kontroversen Aussagen, die Südafrika vortrug, einzugehen. Stattdessen stellte er diesen, weniger bekannte, teilweise nur aus kleineren Zirkeln stammende Aussagen entgegen, die die guten Absichten israelischer Politiker unterstreichen sollten. Dabei präsentierte er wieder die Behauptung, Israel habe der Zivilbevölkerung sichere Fluchtwege zur Verfügung gestellt und Hamas benutze Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Richtig an Shaws Ausführungen ist, dass man das Wort „Völkermord“ nicht leichtfertig benutzen sollte.
Die deutsche Regierung verwirft reflexartig und mit formalen Gründen in einer am Freitag, 12. Januar herausgegebenen Presserklärung die Anklage Südafrikas gegen Israel. Sie präsentiert dafür aber keine inhaltlichen Gründe. Warum entbehren Südafrikas Anschuldigungen „jeder Grundlage“? Worin besteht die „politische Instrumentalisierung“?
Davor fiel sie zwar durch eine Vielzahl von Reisen in den Nahen Osten auf, jedoch weniger durch diplomatisches Geschick und konkrete Ergebnisse. Nach Pflichtbesuchen ranghoher Politiker und den üblichen Solidaritätsbekundungen, enthielt sich Deutschland mit Großbritannien, Südkorea und 41 anderen Staaten bei der Abstimmung über Resolution A/RES/ES-10/21 der UN-General- versammlung am 27. Oktober 2023, die einen sofortigen und dauerhaften humanitären Waffenstillstand in Gaza fordert.
Das deutsche Verhalten bei Resolution A/RES/ES-10/22 der UN-General- versammlung vom 12. Dezember 2023 fiel leider nicht anders aus. Diese Resolution fordert „einen sofortigen humanitären Waffenstillstand“ und fordert alle Parteien auf, „ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen“. Sie fordert die „sofortige und bedingungslose“ Freilassung der Geiseln und „humanitären Zugang“. 153 Staaten stimmten für diese Resolution, während sich Deutschland mit dem Vereinigten Königreich und 21 weiteren Staaten der Stimme enthielt.
Wenige Tage später riefen die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock und ihr britischer Amtskollege David Cameron halbherzig zu einer Art bedingtem Waffenstillstand auf. Doch seitdem hört man nichts mehr von dieser Initiative. Unterdessen war die deutsche Außenministerin am 7.1.2024 schon wieder zu einer Nahost-Reise in kurzer Zeit aufgebrochen. In ihrer Pressemitteilung vom 7.1. heißt es:
„Auf den Tag genau vor drei Monaten hat der Terror der Hamas unvorstellbares Leid über Kinder, Frauen, Männer in Nahost gebracht – in Israel und in Gaza. Auf den Tag genau drei Monate, seitdem Menschen in Israel verzweifelt um das Leben ihrer noch immer verschleppten Angehörigen bangen, während weiter Raketen aus Gaza fliegen. Auf den Tag genau drei Monate, seitdem Hamas sich feige hinter Hunderttausenden von Zivilisten verschanzt, die in völlig verzweifelter Lage Schutz suchen, den es nicht gibt, die hungern, dursten, in Staub und Zerstörung ihre Angehörigen suchen.
Inmitten einer innenpolitischen Blockade und einer desolaten wirtschaftlichen Situation fürchten auch die Menschen im Libanon, dass ein einziger weiterer Funke die ganze Region entflammt. Denn die Lage in Nahost ist brandgefährlich mit Raketen aus zwei weiteren Richtungen: denen der Hisbollah und denen der Huthis.
Wir alle spüren, das Drehbuch des Terrors darf nicht noch weiter aufgehen: Der Terror muss ein Ende haben. Die humanitäre Not der Menschen muss ein Ende haben. Die Region muss aus dem ewigen Zyklus der Gewalt herauskommen. Es ist der Moment, endlich den Grundstein für nachhaltigen Frieden und Sicherheit zu legen. Es sind in diesem Konflikt schon viel zu viele Menschen gestorben – Menschen, die diesen Krieg nicht wollten und sich nach nichts mehr als Frieden sehnen.
Dafür darf keine Gefahr mehr für die Existenz Israels von Gaza ausgehen, muss Hamas die Waffen niederlegen, müssen Hisbollah und die Huthis mit ihrem gefährlichen Zündeln aufhören. Dafür brauchen die Menschen in Gaza und im Westjordanland die Chance auf ein Leben in Sicherheit, Würde und Selbstbestimmung – und in Gaza ganz unmittelbar viel mehr humanitäre Hilfe: gegen den akuten Hunger, gegen die sich ausbreitende Seuchen, gegen die Kälte des Winters. Dafür muss Israel, das das Recht und die Pflicht hat, sich gegen den Terror zu verteidigen, bei seinem militärischen Vorgehen Zivilisten viel besser schützen.
So entfernt dies gerade auch scheinen mag: Israelis und Palästinenser werden nur Seite an Seite in Frieden leben können, wenn die Sicherheit des Einen die Sicherheit des Anderen bedeutet. Das wird nur gelingen, wenn jeder das Leid des Anderen sieht. Es ist unsere Aufgabe, auf dem Weg hin zu einer Zwei-Staaten-Lösung nichts unversucht zu lassen.“
Hier fällt auf, dass Baerbock Elemente aus dem Drehbuch Israels verwendet. Die Geschichte des Konfliktes beginnt danach am 7. Oktober. Der „Terror der Hamas“ habe „unvorstellbares Leid über Kinder, Frauen, Männer in Nahost“ gebracht. Natürlich ist deswegen wieder die Rede von Israels Recht, sich zu verteidigen. Unerwähnt bleibt Israels unverhältnismäßiger und wahlloser Angriff auf den Gazastreifen und seine Zivilbevölkerung. Für ihre Behauptung, dass Hamas sich „feige hinter Hunderttausenden von Zivilisten verschanzt“, liefert Baerbock keine Belege. Diese, schon längst von UN- und Menschenrechtsorganisationen und auch von Medien wie der Washington Post widerlegte Behauptung, wiederholte Israel auch in Den Haag. Immerhin gesteht sie den Menschen in Gaza „ein Leben in Sicherheit, Würde und Selbstbestimmung“ zu.
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