Welche Stellungnahmen und Berichte über die Katastrophe in Gaza kursieren in einem Land, in dem Politiker davon sprechen, dass der Schutz Israels zur Staatsraison gehöre? Deutschland enthielt sich bei der Abstimmung der UN-Generalversammlung über eine Resolution, die einen sofortigen Waffenstillstand fordert. Einige Tage später forderten die Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrem britischen Amtskollegen David Cameron eine Art bedingten Waffenstillstand. Diese Forderung scheint derzeit nicht mehr aktuell zu sein, vielleicht arbeitet man jedoch hinter den Kulissen.
Einer der bedeutendsten lebenden Intellektuellen Deutschlands, der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, vertritt in einer Erklärung mit einigen Mitunterzeichnern den Standpunkt, Israel habe keine genozidalen Absichten, sein „prinzipiell gerechtfertigte[r] Gegenschlag“ müsse sich jedoch an bestimmte Regeln halten. Man könnte nun einwenden, dass Israel nach Habermas diesen Gegenschlag gar nicht führen dürfte, weil es sich nicht an die von ihm geforderten „Grundsätze der Verhältnismäßigkeit“ und „der Vermeidung ziviler Opfer“ hält. Habermas Stellungnahme blieb nicht unwidersprochen. Kritiker bemängeln unter anderem, dass sich die Gruppe um Habermas nicht gegen Kriegsverbrechen ausspreche und das humanitäre Völkerrecht nicht thematisiere.
Viele deutsche Politiker und Journalisten meinen, eine Lehre aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts sei die unbedingte Unterstützung Israels. Doch ist der Staat Israel gleichbedeutend mit „dem Judentum“? Insbesondere ultraorthodoxe Juden, darunter auch die Haredim, lehnen den Staat Israel ab. Judentum sei unvereinbar mit den weltlichen Gesetzen und Regelungen eines Staates, der nach einer gewaltsamen Vertreibung eines anderen Volkes auf dessen Territorium errichtet worden ist.
Zweitens lässt sich die Frage stellen, ob die israelische Regierung gleichbedeutend mit dem Staat Israel ist. Soll Deutschland in einer Art Nibelungentreue zu jeder israelischen Regierung halten, ganz gleich, ob diese zur Diktatur mutiert oder sich anschickt einen Völkermord zu begehen? Falls wirklich eine Freundschaft zwischen Deutschland und Israel existieren sollte, würde dann nicht auch die Möglichkeit eines offenen Gespräches und der Kritik bestehen? Oder ist das deutsche Verhältnis zu Israel kein freundschaftliches, sondern basiert es nur auf aus der Vergangenheit erwachsenen Schuldgefühlen, Gerechtigkeitsvorstellungen und pragmatischen Erwägungen? Etwa im Sinne Konrad Adenauers, der im Interview mit Günter Gaus (ab 26.58) darauf eingeht, warum die „Judenfrage“ so wichtig sei:
„Erstens, aus einem Gefühl der Gerechtigkeit. Wir hatten den Juden so viel Unrecht getan, wir hatten solche Verbrechen an ihnen begangen, dass sie irgendwie gesühnt werden mussten oder wiedergutgemacht werden mussten, wenn wir überhaupt wieder Ansehen unter den Völkern der Erde gewinnen wollten. Und weiter: Die Macht der Juden – auch heute noch, insbesondere in Amerika, – soll man nicht unterschätzen. Und daher habe ich sehr überlegt und sehr bewusst, und das war von jeher meine Meinung, meine ganze Kraft daran gesetzt, so gut es ging, eine Versöhnung herbeizuführen zwischen dem jüdischen Volk und dem deutschen Volk.”
Drittens, lassen sich mit guten Gründen verschiedene allgemeine Werte ableiten aus der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, aus den Verbrechen im Nationalsozialismus und dem Regime in der DDR. Dazu zählen Rechte wie sie im Grundgesetz verankert sind, etwa die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Gleichheit vor dem Gesetz, das Recht auf freie Meinungsäußerung, die Unverletzlichkeit der Wohnung und Versammlungsfreiheit. Das schließt gerade aus, dass ein Volk besondere Privilegien haben darf, die es anderen verwehrt, dass es sich aufgrund ethnischer Kriterien wertvoller dünkt als andere Völker, dass es sich über humanitäres Völkerrecht hinwegsetzen und ein anderes Volk vertreiben, verfolgen oder auch nur teilweise vernichten darf. Wäre nicht gerade Deutschland aufgerufen, sich für diese Werte einzusetzen?
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