Die „Welt“ über den sich abzeichnenden Völkermord im Gazastreifen

Was bedeutet „ausgewogene“ oder „unparteiische Berichterstattung“? Lautet die Antwort: Journalisten verdeutlichen unterschiedliche Positionen eines Konfliktes? Oder gar: Es sollten immer die Argumente aller Seiten dargestellt werden? Unter bestimmten Bedingungen mag das zutreffen, etwa wenn Parteien in einem demokratischen Wahlkampf um Aufmerksamkeit werben, wenn es stichhaltige Gründe für bestimmte unvereinbare gesellschaftliche Positionen gibt, oder wenn in einer langfristigen Auseinandersetzung zwei ebenbürtige Parteien sich bekämpfen.

Doch was bedeutet ausgewogene Berichterstattung im Falle von Folter, der Unterdrückung und Verfolgung von Volksgruppen oder gar im Falle eines Völkermordes? Ist es hier die Aufgabe des Journalisten, auch die Perspektive des Folterers, Verfolgers oder des Akteurs, der sich anschickt, einen Völkermord zu begehen, plausibel zu machen? Oder gar seine Perspektive einzunehmen?

Für einige etablierte Medien scheint diese Regel in gewisser Weise zuzutreffen. In Deutschland orientieren sich die „Welt“ und ihr Schwestermedium „Bild“ an einer so verstandenen Berichterstattung, wenn es um die Darstellung der Ereignisse im Gazastreifen geht. Für „Die Welt“ und „Bild“ ist Hamas eine Terrororganisation. Wenn BBC-Welt über das Geschehen in Gaza berichtet, spricht es zwar nicht explizit von Hamas als einer Terrororganisation, doch stets hören wir dann, verschiedene Staaten stuften Hamas als terroristische Vereinigung ein. Wir hören aber nicht, dass dies nur wenige Länder sind, darunter Australien, Großbritannien, Israel, Japan und einige europäische Staaten.

Die Mehrzahl der Staaten gehört also nicht dazu. Einige Staaten, darunter Brasilien, China, der Iran, die Türkei, Russland oder Syrien – und auch die UN, betrachten Hamas nicht als terroristische Vereinigung. Nicht nur im Hinblick auf die Bezeichnung von Hamas hat BBC-Welt die Sprachregelung Großbritanniens und Israels übernommen. Wir sehen beispielsweise Interviews mit israelischen Generälen, Armee- oder Regierungssprechern, deren realitätsferne Aussagen darüber, dass Israel alles für den Schutz von Zivilisten tue, oft unwidersprochen bleiben, hingegen keine Interviews mit Vertretern von Hamas. In der Lesart etablierter westlicher Medien führt ein demokratischer Rechtsstaat einen berechtigten Verteidigungskampf gegen eine Horde von Terroristen.

Der Diskurs in Israel

In Israel hört sich der öffentliche Diskurs dagegen anders an. Hier nehmen Politiker und Generäle kein Blatt vor den Mund. In Verlautbarungen scheren sie sich nicht um humanitäres Völkerrecht oder um das Wohl von Zivilisten. Bereits drei Tage nach dem 7. Oktober bekennt IDF-Sprecher Daniel Hagari: „Wir werfen hunderte Tonnen Bomben auf Gaza. Der Fokus liegt dabei auf Zerstörung, nicht auf Genauigkeit“. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu schärfte seinen Zuhörern in einer Pressekonferenz am 28. Oktober ein: „Ihr müsst euch daran erinnern, was die Amalekiter euch angetan hat, sagt unsere Heilige Schrift — wir erinnern uns und wir kämpfen“. Dies sehen israelische Extremisten als Aufforderung an, „Frauen, Kinder und Säuglinge, Rinder und Schafe, Kamele und Esel“ auszurotten. Auch die folgenden Aussagen stammen nicht von irgendeinem Politiker oder Offizier, sondern vom israelischen Verteidigungsminister:

„Ich habe eine vollständige Belagerung des Gazastreifens angeordnet. Kein Strom, keine Lebensmittel, kein Gas, alles ist geschlossen. Wir kämpfen gegen menschliche Tiere, und wir handeln entsprechend.“
The Guardian, 9. Oktober 2023

„Gaza wird nicht mehr zu dem zurückkehren, was es zuvor war. Wir werden alles eliminieren.“
RTE, 14. Oktober 2023

Joaw Galant, israelischer Verteidigungsminister

Amihai Eliyahu, Minister für Jerusalemer Angelegenheiten in Netanjahus Regierung, konstatiert, Nuklearschläge auf den Gazastreifen seien möglich, dort gebe es keine „Nichtkombattanten“, also keine durch das humanitäre Völkerrecht geschützte Zivilisten. Der Landwirtschaftsminister Avi Dichter spricht auf der anderen Seite von Zivilisten im Gazastreifen, diese müssten jedoch der israelischen Armee Platz machen, das resultiere in einer „Art neuen Nakba“, also der gewaltsamen Entwurzelung und Vertreibung von Hunderttausenden.

Die New York Times schreibt bereits am 15. November 2023, dass Aufrufe, den Gazastreifen „platt zu machen“, „auszulöschen“ oder „zu zerstören“ seit dem 7. Oktober etwa 18.000 Mal in hebräischen Beiträgen auf X, der früher als Twitter bekannten Seite, erschienen. FakeReporter, eine israelische Gruppe, die Desinformation und Hassreden überwacht, hatte dies herausgefunden. In den anderthalb Monaten vor dem Krieg seien die Ausdrücke dagegen nur 16 Mal erwähnt worden.

Die Dehumanisierung palästinensischer Menschen ist ein schon langer bestehender Bestandteil der israelischen Gesellschaft, wie der israelische Journalist Gideon Levy bereits im Jahr 2015 erklärte. Sie hat sich nicht erst seit dem 7. Oktober herausgebildet. Seit mehr als 10 Jahren taucht immer wieder der Topos vom „Rasenmähen“ in israelischen Veröffentlichungen und Diskussionen auf. Dies ist eine euphemistische Umschreibung für die periodische, gewaltsame Reduktion der Bevölkerung im Gazastreifen, wenn diese eine bestimmte Größe überschritten hat.

David gegen Goliath

Etablierte deutsche Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und die Springerpresse, hinterfragen genozidale Aussagen israelischer Politiker nicht, falls sie diese überhaupt erwähnen. Israel erscheint als David, der gegen Goliath ankämpft. So heften sich in einem grotesken Auftritt Vertreter eines Nuklearwaffenstaates, der gerade dabei ist, eine weitgehend hilflose Zivilbevölkerung auszulöschen, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Davidsterne an. Sie präsentieren sich dabei als Opfer eines geplanten Genozids. Der Welt-Kolumnist Alan Posner stellt Hamas – in völliger Verkennung ihrer Möglichkeiten und der Geschichte – mit den Nationalsozialisten auf eine Stufe. Solche Vergleiche hält selbst die konservative Jerusalem Post für unangemessen. Hamas alleine kann wenig in Israel ausrichten. Tatsächlich wächst jedoch die Gefahr für die israelische Zivilbevölkerung je weiter der Krieg dauert und je mehr die Gefahr eines größeren Regionalkrieges entsteht.

Zudem finden wir in den Beiträgen der etablierten Medien auch nicht den Hinweis, dass Israel die aus der Muslimbruderschaft hervorgegangene Hamas ursprünglich im Gazastreifen als Gegengewicht zur PLO aufbaute und dort unterstützte.1

KRIEG UM GAZA: Tödliche Terror-Taktik – Hamas fügt Israels Armee herbe Verluste zu. Welt Nachrichten, 26.12.2023

Für „Die Welt“ ist die Lage klar. Auf der einen Seite agieren Terroristen und hinterhältige Guerillakämpfer auf der anderen Seite, so suggeriert diese Reportage, kämpfen heldenhafte Soldaten. Auf der einen Seite gibt es ein Gebiet ohne Identität mit nur einer diffus lokalisierbaren Bevölkerung, auf der anderen Seite verteidigt sich eine Demokratie. Deutsche Medien überprüfen viele Aussagen nicht, sondern entnehmen sie dem Drehbuch Israels. Näheres zu der Aussage, man habe die Leichen von fünf von der Hamas ermordeten Geiseln gefunden, erfahren wir nicht.

Terroristen gegen heldenhafte Soldaten

Man sieht Tunnel, in denen Waffen hergestellt werden. Unterschwellig legen diese Bilder nahe, dass die Waffenherstellung im Gazastreifen verboten sei. Ungefiltert spricht Daniel Hagari. Hamas operiere von zivilen Gebieten aus. Von woher soll sie auch sonst operieren in einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt? Hagari meint, die IDF wollten ein „gutes Ergebnis erzielen“. Doch, was bedeutet „gut“? Nach fast drei Monaten haben die IDF Hamas nicht überwältigen können, dafür haben sie jedoch effektiv etwa 40.000 Wohneinheiten zerstört und mehr als 20.000 Personen, darunter der größte Teil Zivilisten, Frauen und Kinder getötet. Immerhin berichtet die „Welt“ über die ägyptische Friedensinitiative.

Fußnote:

1

Siehe auch Krautkrämer, Elmar. 2003. Krieg ohne Ende? Israel und die Palästinenser – Geschichte eines Konfliktes. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 141, Shlaim 2009, The Intercept 2018, Yoryevrah 2023


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