Netanjahu: Israel hat „tausende Terroristen eliminiert“ AFP Deutschland 24.12.2023
Die israelische Armee habe bei ihrem Einsatz im Gazastreifen nach den Worten von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu „tausende Terroristen eliminiert“. Die „Arbeit“ gehe aber weiter, versicherte er. Hier stellen sich gleich mehrere Fragen. Zunächst einmal wäre zu klären, wer ein „Terrorist“ ist oder was „Terrorismus“ bedeutet. Deutsche Medien übernehmen von Israel unkritisch die von Israel gelieferten Vorlagen, sie stimmen mit Netanjahu darin überein, militante palästinensische Gruppen als „Terroristen“ zu bezeichnen. Voraussetzung für eine solche Etikettierung wäre eine verbindliche, leicht übertragbare Definition von Terrorismus.
Noam Chomsky meinte bereits vor zwanzig Jahren, dass die Frage, was Terrorismus sei, worin er sich von Aggression und Widerstand unterscheide nie in der Öffentlichkeit diskutiert wurde. Daher begnüge man sich damit, das unter Terrorismus zu verstehen, was „unsere Führer so bezeichnen“.1 Und diese bezeichnen so regelmäßig Aktionen von Widerstandsgruppen, also von Kämpfern, die gewaltsam gegen politische Unterdrückung oder Besatzung operieren.
Chomsky bezieht sich in seinen Ausführungen an späterer Stelle auf eine Definition eines Handbuches der U.S.-Armee. Demnach ist Terrorismus „der kalkulierte Einsatz von Gewalt oder die Bedrohung durch Gewalt zur Erreichung politischer, religiöser oder ideologischer Ziele … durch Einschüchterung, Zwang und Angsteinflößung“2.
Diese Definition ist nicht weit entfernt von einer landläufig akzeptierten, so wie sie bei Wikipedia zum Ausdruck kommt:
„Unter Terrorismus (abgeleitet über „Terror“ von lateinisch terror ‚Furcht‘, ‚Schrecken‘) versteht man im Allgemeinen kriminelle Gewaltaktionen, wie Attentate, Sprengstoff- und Brandanschläge, Amokläufe und -fahrten oder Schiffs- und Luftpiraterie, mit denen politische, religiöse oder ideologische Ziele erreicht werden sollen.“
Zweitens stellt sich die Frage, was die israelische Armee denn nun tatsächlich erreicht hat. Kann man den Aussagen Glauben schenken, dass Israel „tausende Terroristen“ eliminiert hat? Welche Belege kann Netanjahu für diese Behauptung präsentieren? Schließlich, kann Israel Hamas zerstören? Falls dies möglich sein sollte, wäre der Preis dafür die ethnische Säuberung des Gazastreifens oder ein Genozid?
Wir hören immer wieder von israelischen Generälen und Armeesprechern, man tue alles, um Zivilisten zu schonen. Doch die dann folgenden Taten belegen das Gegenteil. Gaza ist eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Wie kann die IDF unter solchen Bedingungen effektiv gegen feindliche Kämpfer vorgehen, ohne dabei hohe zivile Verluste zu verursachen?
Das Entfernen von Zivilisten „aus der Umgebung militärischer Ziele“
Ein Überraschungsangriff mit präzisionsgelenkter Munition und Spezialeinheiten kann militärische Ziele zerstören, geht aber mit hohen zivilen Verlusten einher, wenn sich in der Nähe des militärischen Zieles viele Zivilisten befinden. Die IDF warnt also die Bewohner einer Region oder bestimmter Gebäude vor einem möglichen Angriff, fordert sie zum Verlassen ihrer Wohngegend auf, „entfernt“ sie „aus der Umgebung militärischer Ziele“ (Artikel 58 des Zusatzprotokolls zur IV. Genfer Konvention). „Entfernen“ läuft in vielen Fällen auf eine gewaltsame Vertreibung hinaus. Was aber passiert, wenn es keine Orte gibt, wo sich die „entfernten“ Zivilisten aufhalten können? Diese Vorwarnungen bedeuten andererseits, dass das Moment der Überraschung verloren geht und damit die Militäroperation weniger effektiv im Hinblick auf die zu erreichenden militärischen Ziele verläuft als dies ohne Warnung der Fall wäre. Die besondere Situation im Gazastreifen macht es also unter den derzeitigen Bedingungen unmöglich, militärische Ziele zu bekämpfen, ohne dabei hohe Verluste an Zivilisten zu verursachen.
Die israelische Zeitung Haaretz kommt in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass während der derzeitigen Operationen in Gaza die Zahl der von israelischen Einheiten getöteten Zivilisten an allen Opfern ungewöhnlich hoch ist. Sie sei mit 61 Prozent höher als in anderen israelischen Operationen und höher als sie normalerweise in Kriegen im 20. Jahrhundert war. Zum anderen waren und sind Zivilisten bewusst gewählte Zielscheiben von israelischen Angriffe, wie Amnesty International, Human Rights Watch oder der Goldstone-Bericht zeigten.
Zivilisten, Journalisten, Krankenhäuser und Krankenhauspersonal waren in der Vergangenheit oft Zielscheiben israelischer Angriffe. Unter den Getöteten während der derzeitigen Kampfhandlungen im Gazastreifen befinden sich mehr als 60 Journalisten. Eines der letzten Opfer ist der für Al Jazeera tätig gewesene Kameramann Samer Abudaqa. Ebenso beschießt die IDF während ihres gegenwärtigen Einsatzes von außerhalb und innerhalb des Gazastreifens UN-Mitarbeiter, Krankenhäuser und medizinisches Personal. WHO Chef Tedros spricht am 10. Dezember in Genf von 449 Attacken auf Gesundheitseinrichtungen und mehr als 100 getöteten UN-Mitarbeitern während des jetzigen Konfliktes im Gazastreifen. Israels in der Öffentlichkeit vorgestellten Gründe für diese Aktionen überzeugen nicht.
Beschuss von Krankenhäusern und Journalisten
Israel präsentierte zwar eine hochauflösende Videoanimation mit einer angeblichen Hamas-Kommandozentrale unter dem Al-Schifa-Krankenhaus, dem größten Krankenhaus im Gazastreifen, konnte bisher aber keine Beweise dafür liefern, dass dieses oder andere Hospitäler Hamas als „Kommando- und Kontrollzentren“ dienten. Ebenso haben die dort tätigen Ärzte dafür keine Anhaltspunkte. Bilder von angeblichen Waffenlagern in der Nähe von Magnetresonanztomographen, die ein magnetisches Feld erzeugen und damit Untersuchungen verfälschen würden, zeugen eher von der Unwissenheit derjenigen, die diese inszeniert haben. Selbst wenn dort Waffen lagerten, würde dies die IDF nicht dazu berechtigen, das Krankenhaus anzugreifen.
Wenn man mit dem oben skizzierten Maßstab, was unter „Terrorismus“ zu versteht ist, die Einsätze der israelischen Armee misst nach der Art ihrer Vorgehensweise und dem Verhältnis von erreichten militärischen Zielen und dem entstandenen Schaden unter Zivilisten, so dürfte es nicht schwerfallen, viele dieser Einsätze als terroristische Aktionen zu bezeichnen.
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