Einordnung der Katastrophe im Gazastreifen

Wer ist verantwortlich für die gegenwärtige Situation im Gazastreifen und die derzeitigen gewalttätigen Auseinandersetzungen im Westjordanland? Der israelische Ministerpräsident behauptete zunächst, Israel wolle keinen Krieg. Doch Hamas habe durch den Anschlag am 7. Oktober 2023 Israel „diesen Krieg“ aufgezwungen. Kurze Zeit später machten israelische Generäle und Politiker alle im Gazastreifen lebenden Palästinenser für die Attacke verantwortlich. Eine Woche nach dem Anschlag verkündete der israelische Präsident Herzog, es gebe keine unschuldigen Menschen im Gazastreifen. Die Palästinenser lokalisieren den Grund jedoch woanders: Sie sehen sich als Opfer einer brutalen Besatzungsmacht und einer fünfundsiebzigjährigen aggressiven zionistischen Expansionspolitik.

Im Westjordanland agieren im Windschatten der Ereignisse in Gaza israelische Sicherheitskräfte und militante Siedler. Sie tyrannisieren die dort lebenden Araber, indem sie Straßen blockieren, Häuser in Brand setzen, Olivenbäume fällen, Vieh stehlen und körperliche Gewalt ausüben, auch in Form von Folter. Das Jahr 2023 ist das tödlichste Jahr dort für Palästinenser seit 2005.

Die Hauptakteure sind die Handelnden, aber sie sind nicht die Alleinverantwortlichen. Es sind ebenso diejenigen, die diesen Konflikt jahrzehntelang nicht regulierten und schwelen ließen. Der „Nahe Osten“, am Schnittpunkt von drei Kontinenten am Mittelmeer gelegen und reich an natürlichen Ressourcen, stellt nach wie vor eine wichtige geostrategische Region dar. Alle Großmächte wollen mit einem Fuß im Vorderen Orient vertreten sein; auch Russland und China unterstützen ihnen freundlich gesinnte Staaten in der Region, nicht zuletzt militärisch. Eine übergroße regionale Macht wäre nicht in ihrem Sinne.

Die USA und die EU setzen in gewisser Weise fort, was Großbritannien Jahrzehnte vor ihnen durchexerzierte: Nicht gelöste Gegensätze zwischen den regionalen Mächten bieten sich als Rezept an, Einfluss in der Region zu gewinnen. Daher machen einflussreiche westliche Staaten allen wichtigen Akteuren in der Region Versprechungen; teile und herrsche, sofern dadurch die von israelischen Regierungen artikulierten Interessen nicht zu sehr beeinträchtigt werden. Insbesondere Großbritannien und die USA, aber auch Deutschland und Frankreich, negieren in öffentlichen Verlautbarungen ihre imperiale Vergangenheit und projizieren ihre Träume und Idealvorstellungen auf das gelobte Land am Mittelmeer, das einen „Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen“ (Theodor Herzl) soll.

Andererseits profitieren die Eliten in den arabischen Staaten von dieser Politik. Auch Mitglieder palästinensischer Organisationen, insbesondere ihre Führungsschichten, bereicherten sich durch Zuwendungen. Das könnte ein Grund dafür ein, dass sich die arabischen und muslimischen Staaten seit Jahrzehnten kaum auf eine effektive deeskalierende gemeinsame Linie in der Palästinafrage verständigen, wie der Gipfel in Riad im November zeigte.

Ein Teil der amerikanischen Unterstützung besteht aus Militärhilfen: Ohne Kreditzusagen von insgesamt mehr als 130 Milliarden Dollars in den vergangenen 75 Jahren hätte Israel niemals moderne und hochgerüstete Streitkräfte aufbauen können. In den vergangenen zwanzig Jahren belief sich die U.S. Militärhilfe für Israel auf jährlich 3 bis 4 Milliarden Dollar. Mit diesem Geld kann Israel Panzer bauen, Flugzeuge erwerben und im Gazastreifen Wohnhäuser, Tunnels, Kirchen und Krankenhäuser zerstören. Joe Biden hat für das Jahr 2023 14,3 Milliarden zusätzlicher Militärhilfe beantragt.

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Grafik: Knutson, Jacob. „What to know about U.S. aid to Israel“. Axios. 4. November 2023

Ebenso unterstützen die USA in Form von Rüstungshilfen Afghanistan, Ägypten und andere Staaten in der Region. Gleichzeitig verkaufen sie Rüstungsgüter an Saudi-Arabien, den weltweit zweitgrößten Waffen-Importeur, Katar und andere Staaten im Orient. Jahrzehnte schien die unbedingte Unterstützung Israels aufzugehen. Einige Kriege erschütterten zwar die Region, damit war sie instabil, geriet aber nicht vollkommen aus den Fugen. Solange Israel nicht bedroht wird, so scheint eine Devise zu lauten, darf es ruhig Kriege in Syrien oder im Irak geben. Ebenso lassen seit einigen Jahren Regierungen der USA, Deutschlands, Großbritanniens, Frankreichs und anderer westlicher Staaten Saudi-Arabien unbehelligt Krieg im Jemen führen und unterstützten währenddessen stets die israelische Regierung, sogar als absehbar war: Ihr Wertekanon hat kaum etwas mit proklamierten europäischen Werten gemein – und sie steuert auf eine Diktatur zu.

Waffenlieferungen können den Konflikt im Nahen Osten nicht lösen, sollen ihn nicht lösen. Dennoch haben westliche Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten einen Apartheidstaat militärisch aufgerüstet. Wer bestimmte Verhaltens- und Handlungsweisen nicht verhindert, sie unterstützt oder sogar seinen Adressaten ermutigt, diese auszuführen, sanktioniert diese Verhaltensweisen positiv. Auch durch positive Sanktionen westlicher Staaten haben sich bestimmte militante Einstellungen und Handlungsweisen verfestigt. Gewalt gegen Zivilisten, wenn sie auf der falschen Seite stehen, tritt dann häufiger in Erscheinung und gilt als legitim und normal, Widerstand gegen diese Gewalt hingegen als Terrorismus und die Beschlüsse der Mehrheit der Staatengemeinschaft als zu vernachlässigende Größe. Der Besatzer gebärdet sich als Opfer, dessen Aussagen und Handlungen nicht hinterfragbar sind und das Opfer tritt als Täter in Erscheinung. Wer ohne eine „rote Linie“ alle außenpolitischen Aktionen eines Staates gutheißt, etwa unter Bezugnahme auf ein „Recht auf Selbstverteidigung“ ist mitverantwortlich, wenn dieser Staat sich anschickt, ethnische Säuberungen und einen Genozid durchzuführen. Der ehemals konservative britische Abgeordnete Crispin Blunt hat es auf den Punkt gebracht: Wer Israels Sicherheit unmissverständlich unterstützt und es zu Kriegsverbrechen ermutigt, macht sich völkerrechtlich gesehen mitschuldig.

Doch nicht nur geostrategische und wirtschaftliche Interessen bestimmen die Nahostpolitik der Großmächte. US-amerikanische Regierungen legen grundsätzlich Wert auf ein gutes Verhältnis mit israelischen Regierungen – nicht zuletzt aufgrund mächtiger israelischer Einflussgruppen, ohne deren Fürsprache kaum eine Präsidentenwahl in den Vereinigten Staaten zu gewinnen ist, einerlei, ob die Präsidentschaftskandidaten konservativ sind, mit dem Zeitgeist gehen oder progressiv erscheinen, ob sie Donald Trump, Joe Biden oder Robert F. Kennedy Jr. heißen. Zu diesen Einflussgruppen gehören auch christliche Zionisten.

Die Professoren John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt konnten in einer umfangreichen Studie nachweisen, dass israelische Lobbygruppen die amerikanische Regierung dazu bewegen, eine Politik zu verfolgen, die teilweise amerikanischen Interessen und sogar israelischen Interessen widerspricht.


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