Im öffentlichen Diskurs über den Krieg in der Ukraine erfahren wir selten, wie viele Menschen in diesem Konflikt sterben oder bereits gestorben sind und wie viele Verletzungen erleiden oder erlitten haben. Ebenso erscheinen keine verlässliche Angaben über die Gesamtzahlen vorhandener oder zerstörter Waffensysteme. Jedenfalls liegen dem Verfasser dieser Zeilen keine solchen Angaben
vor. Im Folgenden soll es darum gehen, die vorhandenen Zahlen in den Blick zu nehmen und auf ihre Plausibilität zu untersuchen.
Indikatoren | Russland | Ukraine |
---|---|---|
Geschätzte Truppenstärke | 1330900 | 500000 |
Aktive Soldaten | 830900 | 200000 |
Reservisten | 250000 | 250000 |
Paramilitärische Verbände | 250000 | 50000 |
Luftstreitkräfte | ||
Gesamtzahl der Flugzeuge | 4182 | 312 |
Gesamtzahl der Hubschrauber | 1531 | 113 |
Düsenjäger | 773 | 69 |
Kampfflugzeuge | 744 | 28 |
Angriffs-Hubschrauber | 537 | 33 |
Trainingsflugzeuge | 524 | 71 |
Transportflugzeuge | 444 | 26 |
Aufstellung von Truppenkontingenten und Waffensystemen der Luftwaffe
Eine genaue Auflistung der Opferzahlen stößt auf mehrere Hindernisse. In einem umkämpften Gebiet ist es schwierig und mit Gefahren verbunden, Verluste präzise zu dokumentieren. Oft sind die Prioritäten der Kriegsparteien auch andere: Ihnen geht es etwa darum, alle Kräfte für eine neue Kampagne oder für die Abwehr einer Offensive des Feindes zu bündeln. Verständlicherweise versucht zudem jede Konfliktpartei ihre Toten und Verletzten gering zu halten, zumindest die Zahlen, die von den Toten und Verletzten an die Öffentlichkeit dringen. Die Kontrahenten wollen zivile Opfer im eigenen Hoheitsgebiet vermeiden, andererseits bietet eine hohe Zahl ziviler Opfer eine willkommene Legitimationsgrundlage die Bevölkerung gegen einen als rücksichtslos dargestellten Feind zu mobilisieren.
Neben den eigenen Verlusten stehen die Verluste der Gegenseite. Den Konfliktparteien geht es darum, diese Verluste höher erscheinen zu lassen, entweder zu belegen, dass es möglich ist, gegen eine Übermacht zu bestehen oder gegen den Gegner mit einem breiten Sicherheitspolster kämpfen zu können. Benjamin J. Radford von der Universität North Carolina und seine Kollegen gehen davon aus, dass jede Seite im Ukrainekrieg die Verluste der Gegenseite wesentlich höher veranschlagt als sie tatsächlich sind, und dass “jede Seite ihre eigenen Verlust um ungefähr die Hälfte unterschätzt.”
Die Ukraine ist bestrebt, weitere Waffenlieferungen zu erhalten und ihren westlichen Verbündeten zu zeigen, dass sie diese wirkungsvoll einsetzt. Laut Seymor Hersh versucht Wolodymyr Selenskyj durch die Nichtanerkennung des Scheiterns der ukrainischen Offensive gegen Russland Unterstützung und westliche Waffenlieferungen zu erhalten.
Der Kreml ist daran interessiert, die russische Bevölkerung für seine “militärische Spezialoperation” weiter zu mobilisieren und nicht mit hohen Verlustmeldungen abspenstig zu machen.
Die “Notwendigkeit” einer “militärischen Spezialoperation” wollte Wladimir Putin in seiner Fernsehansprache am 24. August 2022 herausstellen. “Es war notwendig, diesen Alptraum – diesen Völkermord an den Millionen von Menschen, die dort leben und nur auf Russland hoffen, die nur auf uns hoffen – sofort zu beenden” (Übersetzung Thomas Röper). “We had to stop that atrocity, that genocide of the millions of people who live there and who pinned their hopes on Russia, on all of us.” (Übersetzung New York Times).
Nach UN-Angaben sind in den Jahren 2014 bis 2021 mindestens 5000 Zivilisten in der Ukraine den militärischen Auseinandersetzungen zum Opfer gefallen. Die am 24. Februar begonnene russische Invasion fordert allerdings wesentlich mehr zivile Opfer. Die UN gibt etwa 27000 zivile Opfer an, darunter mehr als 9000 Tote. “Since Russia’s invasion of Ukraine on 24 February 2022 up to 27 August 2023, the UN human rights office (OHCHR) recorded 26,717 civilian casualties in the country, including 9,511 killed and 17,206 injured.”
In den vergangenen Jahren vor Beginn der “militärischen Spezialoperation” verübten ukrainische Soldaten Menschenrechtsverletzungen, über die westliche Medien selten berichtet haben. Doch von einem Völkermord kann nicht die Rede sein, schon gar nicht von einem Völkermord an Millionen von Menschen. Die Angaben der beteiligten Konfliktparteien sind daher mit Vorsicht zu genießen.
Vielfältige Opferkategorien lassen sich bilden:
- In militärischen Auseinandersetzungen getötete oder verletzte Soldaten / “Kämpfer”
- Unintendiert in militärischen Auseinandersetzungen getötete oder verletzte Zivilisten (“Kolletaralschäden”)
- Absichtlich durch Aktionen der regulären Streitkräfte oder durch “Kämpfer” getötete oder verletzte Zivilisten
- Durch Folter getötete oder verletzte Soldaten oder Kämpfer
- Aufgrund von Folter getötete oder verletzte Zivilisten
Die Leidtragenden moderner Kriege sind insbesondere Zivilisten. Der Ukraine-Krieg scheint dagegen eine Mischung aus einem Stellungskrieg, wie ihn etwa Europa im Ersten Weltkrieg durchlitt, und einem modernen Krieg mit verbundenen Waffensystemen zu sein. Das zeigen auch die – im Vergleich zu Verlusten von Soldaten – relativ geringen Zahlen an zivilen Opfern.
Nach der New-York Times (18. August 2023) haben die Konfliktparteien bisher 500.000 Soldaten getötet oder verwundet. Davon habe die russische Seite 120.000 Tote und 170- bis 180 Tausend Verwundete zu beklagen, während die Zahl der toten Soldaten sich auf ukrainischer Seite auf 70.000 belaufe und die der Verwundeten auf 100.000 bis 120.000. Die Ukraine habe ungefähr 500.000 einsatzfähige Soldaten, darunter Aktive, Reservisten und Kämpfer in paramilitärischen Verbänden. Russland habe dagegen fast drei Mal so viele.
Journalisten und Intellektuelle, die die ukrainische Position kritisieren, beziehen sich in ihren Angaben gelegentlich auf die Aussagen und Zahlen von Douglas McGregor, einem US-amerikanischen Oberst, der maßgeblich an der Planung und Durchführung des Irak-Krieges im Jahre 1991 (“Desert Storm”) und am NATO-Jugoslawien-Einsatz 1999 beteiligt war. Präsident Trump wollte ihn zum amerikanischen Botschafter in Deutschland ernennen. Der US-Senat verhinderte dies.
In einem vor mehr als einem Monat geführten Interview mit Tucker Carlson behauptet McGregor, die Ukraine habe bereits 400.000 tote Soldaten im Kampf zu beklagen (2.00 ff), Russland dagegen “nur” 50.000 Soldaten (19.55 ff). Er gibt allerdings nicht an, woher er diese Zahlen hat oder durch welche Berechnungen er zu ihnen gekommen ist.
Oberst Douglas McGregor und Tucker Carlson am 28. August 2023
Wenn McGregors Behauptungen stimmen, und wenn wir von 500.000 einsatzfähigen ukrainischen Soldaten ausgehen, hat die Ukraine bereits 80% ihrer Soldaten verloren. Diese Einschätzung ist nicht plausibel. Denn die Ukraine hat sich vor ihrer angekündigten Offensive in erster Linie verteidigt. Wenn man davon ausgeht, dass die Zahl angreifender Truppen, wenn sie einen Durchbruch erzielen sollen, die Zahl der verteidigenden Truppen, in der Regel um das dreifache übersteigen muss, dürften die Verlust eher auf der russischen Seite liegen. Vor einem Jahr behauptete McGregor noch (z.B. hier und hier), die Ukraine stehe kurz vor einer Niederlage.
Im Interview mit Tucker Carlson behauptet er weiter, ähnlich wie er dies bereits im März 2022 tat, dass die Russen ukrainische Soldaten sehr freundlich behandelten. “The Russians from the beginning have always treated Ukrainian soldiers very fairly and very gently” (3.00). In ähnlicher Weise wiederholte der in St. Petersburg ansässige deutsche Journalist Thomas Röper ungefiltert russische Verlautbarungen am Anfang des Krieges, etwa dass Russland keine zivilen Ziele angreifen würde. Am 12. Oktober 2023 behauptet Röper erneut “Die westlichen Medien berichten seit über anderthalb Jahren vom angeblich brutalen Vorgehen der russischen Armee, während ich immer wieder darauf hingewiesen habe, dass die russische Armee ganz und gar nicht brutal, sondern ausgesprochen umsichtig vorgeht.”
Tatsächlich erscheint das Vorgehen der russischen Armee wesentlich umsichtiger zu sein als die wahllose, das humanitäre Völkerrecht missachtende Vorgehensweise der israelischen Armee im Gaza-Streifen ab dem 5. Oktober 2023.1 Die Ukraine hat mit circa 37 Millionen Einwohnern (2023) 32% mehr Einwohner als der Irak im Jahre 2005. Dennoch waren während des Irak-Krieges ab dem März 2003 innerhalb eines Jahres wesentlich mehr zivile Opfer zu beklagen als in dem derzeitigen Krieg in der Ukraine. Ein in der angesehenen medizinischen Fachzeitschrift “The Lancet” erschienener Artikel geht sogar davon aus, dass bis Juli 2006, also innerhalb von knapp drei Jahren, mehr als 600.000 Iraker aufgrund kriegerischer Gewalt ihr Leben lassen mussten.
Statista: Documented civilian death in iraq since 2003
Es ist davon auszugehen, dass Russland ohne weiteres die Möglichkeit hat, wesentliche Infrastruktur in Kiew mit Raketen oder mit von Flugzeugen gesteuerten Lenkwaffen breitflächig zu zerstören, wie dies die USA und ihre Verbündeten im Jahre 2003 in Bagdad taten. Russland ist allerdings an einer solchen Eskalation nicht interessiert, wie auch das amerikanische Magazin “Foreign Affairs” betont. Daher ist Wolodymyr Selenskyjs Behauptung vor dem Deutschen Bundestag falsch: “Die russischen Truppen unterscheiden nicht, wo Zivilpersonen sind und wo Soldaten sind, wo zivile Objekte sind. Sie halten alles für eine Zielscheibe.”
Während die ukrainische Seite zahlreiche Menschenrechtsverletzungen verübte und durch das Kriegsrecht und Ausnahmeregelungen die Freiheiten seiner Bürger beschneidet, worunter willkürliche Verhaftungen bis zu 9 Tagen ohne richterlichen Beschluss fallen, worauf auch das OHCHR hingewiesen hat, entspricht es nicht den Tatsachen, dass Russland in der Ukraine keine zivilen Ziele angreift und Zivilisten stets freundlich behandelt. Internationale Organisationen wie die UN in dem eben angegebenen Bericht, die OSZE, Human Rights Watch oder Amnesty International widersprechen solchen Behauptungen. Die Unabhängige internationale UN-Untersuchungskommission (IICIK (Independent International Commission of Inquiry on Ukraine) schreibt am 25 September 2023:
“The Commission’s investigations in Kherson and Zaporizhzhia indicate the widespread and systematic use of torture by Russian armed forces against persons accused of being informants of the Ukrainian armed forces. In some cases, torture was inflicted with such brutality that it caused the death of the victim.”
UN-Untersuchungskommission am 25. September 2023
There is continuous evidence that Russian armed forces are committing war crimes in Ukraine, including unlawful attacks with explosive weapons, attacks harming civilians, torture, sexual and gender-based violence, and attacks on energy infrastructure, the Independent International Commission of Inquiry on Ukraine said in its latest update today.
Pressemitteilung des IICIK September 2023
Russland wirft der Ukraine vor, zivile Ziele anzugreifen. Das diente auch als Rechtfertigung der russischen Invasion in die Ukraine. Warum beschießt es dann selbst ukrainische Zivilisten mit Raketen? (siehe etwa hier und hier) Warum bombardiert es ukrainische Städte?
Die Untersuchungsergebnisse des IICIK wischt der in St. Petersburg ansässige Journalist Thomas Röper einfach beiseite, in dem er auf “Parteilichkeit” der Kommissionsmitglieder verweist. Seine Argumentation ist einfach, aber nicht überzeugend. Die Kommissionsmitglieder hätten alle in westlichen Ländern Karriere gemacht und würden damit automatisch die Perspektive “des Westens”, also eine anti-russische einnehmen. In seinem Artikel verweist er an späterer Stelle jedoch auch auf Berichte der in New-York ansässigen NGO Human Rights Watch, nachdenen zufolge die Ukraine willkürlich explodierende Schmetterlingsminen eingesetzt hat.
In dieser Welt der Macht- und Einflusszonen ist die Ukraine nur ein Marionettenstaat ohne Autonomie, ohne eigene Interessen und Existenzberechtigung, der “vom Westen” beherrscht wird. Andererseits behauptet Wladimir Putin, die ukrainische Regierung bestehe aus Faschisten. Wenn ein Kennzeichen totalitärer Regime nationale Stärke und das Streben nach Unabhängigkeit von anderen Staaten ist, passen diese Aussagen allerdings nicht zusammen. Entweder ist die Ukraine eine willenlose vom Westen gesteuerte Marionette, dann hat sie allerdings eine schwache Regierung. Oder die Ukraine hat ein gewisses Maß an nationaler Stärke und Selbstständigkeit erreicht, dann wird sie allerdings nicht vom Westen gesteuert.
Fußnote
1 Man sollte vielleicht zuerst die Frage stellen, ob Israel tatsächlich Krieg führt. Kann ein Staat gegen eine Organisation Krieg führen? Nach der Haager Landkriegsordnung müssen kriegsführende Streitkräfte (“Heere”) oder Milizen bestimmte Bedingungen erfüllen.
Dass Israel bereits jetzt gegen humanitäres Kriegsrecht verstößt ist offensichtlich. Der Einsatz von Weißen Phosphor in Wohngebieten durch die israelischen Streitkräfte widerspricht Paragaph 23 der Haager-Landkriegsordnung (in der Fassung von 1907), die den „Gebrauch von Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen“ untersagt. Human Rights Watch schreibt: “Israeli authorities have cut electricity, water, fuel and food into Gaza, in violation of the international humanitarian law prohibition against collective punishment, exacerbating the dire humanitarian situation from over 16 years of Israeli closure.”
Nach Art 3 der Genfer Abkommen sollen “Personen, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, einschließlich der Mitglieder der bewaffneten Streitkräfte, welche die Waffen gestreckt haben, und der Personen, die infolge Krankheit, Verwundung, Gefangennahme oder irgendeiner anderen Ursache außer Kampf gesetzt wurden, … unter allen Umständen mit Menschlichkeit behandelt werden”. Nach Artikel 18 des Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten müssen Krankenhäuser geschont werden und “dürfen unter keinen Umständen das Ziel von Angriffen bilden”.
Beitrag veröffentlicht
in
von
Schlagwörter:
Schreibe einen Kommentar