Ist der westliche Buddhismus nur ein romantisches Missverständnis?

Ṭhānissaro Bhikkhu, auch „Ajaan Geoff“ genannt, „ist ein US-amerikanischer Buddhist der Theravada-Tradition, der als Mönch des Thammayut-Ordens der thailändischen Waldtradition angehört.“ Im Jahre 2012 erschien die überarbeitete Fassung eines Aufsatzes, den Ṭhānissaro Bhikkhu im Jahre 2006 über denBuddhistischen Romantizismus“ schrieb. Dort behauptet er, die geistige Strömung in der deutschen Philosophie und Literatur des frühen 19. Jahrhunderts habe maßgeblich das geprägt, was wir heute unter „Romantik“ verstehen, diese wiederum habe einen entscheidenden Einfluss auf den westlichen Buddhismus (gehabt). Die Autoren dieser Zeit und die aus ihnen schöpfenden heutigen Epigonen lehrten eine Einheit von Körper und Geist, Mensch und Mitmensch, von Mensch, Natur und Kosmos.1 Westliche Anhänger des Buddhismus hätten so die Lehre des Nicht-Selbst lediglich als eine nicht bestehende Grenze des Individuums zu seiner Umwelt interpretiert. Wären wir frei vom Ego, lebten wir im Frieden. Nach dem traditionellen Dharma sei aber diese Interdependenz unstabil. Der Dharma lehre Aufopferung und Zurückgezogenheit.2 Die erwachte Person könne nie mehr hinter den einmal erreichten moralischen Zustand zurückkehren, sei vollkommen von allen weltlichen Anhaftungen geheilt. Diese Wandlung basiere nicht auf Gefühlen, sondern auf Einsicht. Ebenso sei das Erwachen nicht die Einsicht in die Verbundenheit mit dem Kosmos und allen Lebewesen, sondern die Auslöschung des Anhaftens.3

Ich sehe keinen Widerspruch zwischen der „Einsicht in die Verbundenheit mit dem Kosmos und allen Lebewesen“ und der „Auslöschung des Anhaftens“. Beides bedingt sich meines Erachtens. Ohne das Eine gibt es nicht das Andere. Grundsätzlich teile ich den Zweifel des Autors daran, dass der Dharma nicht in seiner urprünglichen Fassung, sondern in eher Moden unterworfenen Varianten die westliche Welt beinflusst. Oft ist er eher modernen, oder „romantischen“ Denk- und Fühlbedürfnissen angepasst und entspricht zuweilen damit nicht mehr der von seiner Gründergestalt intendierten Gestalt und Form. Der Buddhismus ist eine Lehre der Selbstreflexion. Das Denken, sofern es sich auf empirisch gewonnene Anschauungen bezieht, spielt in ihm eine entscheidende Rolle.4 Dies widerspricht der in einigen buddhistischen Kreisen vorherrschenden Rationalitätsfeindlichkeit.

Viel über das Erwachen und die „Erleuchtung“ zu sprechen verhindert einen Fortschritt auf dem Weg zur Selbsterkenntnis. Die Vorstellung, dass irgendwann die Zweifel alle gelöst seien und der Mensch aus eigenen Antrieb vollkommen erwachen und dann, ähnlich wie die schöne Seele in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahren, nie mehr auf eine niedrigere moralische Stufe zurückfallen kann, halte ich für bedenklich und naiv. Einer der ersten westlichen Zen-Meister, Ferdinand Lasalle, meinte einmal, dass mit der Erleuchtung die Arbeit erst anfange. Andererseits kennt das Zen viele Begebenheiten mit Schülern, die zwar große Erkenntnisfortschritte machten und Sartori erlangten, deren moralische Entwicklung aber nicht mit Schritt hielt.

„Western students discovered that they could relate to the doctrine of dependent co-arising when it was interpreted as a variation on interconnectedness; and they could embrace the doctrine of not-self as a denial of the separate self in favor of a larger, more encompassing identity with the entire cosmos.“

Der Autor scheint mehr als 1500 Jahre buddhistische Geschichte kaum rezipiert zu haben. Die in obigem Zitat gezeigte Auffassung basiert m.E. nicht auf einem europäischen Missverständnis. Wir finden solche Gedanken bereits in China und Korea ab dem fünften Jahrhundert. Das bekannte indische Avatamsaka-Sutra, das im chinesischen Buddhismus im sechsten Jahrhundert erstmals breit rezipiert wurde,5 ist ein Beispiel für die Lehre der allgegenwärtigen Verbundenheit. In China vertraten etwa Xuanzeng (596-664) oder Fazang (643-712) die Lehre einer wechselseitigen Durchdringung aller Elemente der Welt. In Korea lehrten die Meister Wonhyo (617-686) und Uisang (625-702) die Interdependenz der Daseinsfaktoren. („One is all, all is one. One is identical to all. All is identical to one“6). Es mag allerdings zutreffen, dass schon frühe, in ähnlicher Weise im Buddhismus formulierte Anschauungen später in bestimmten Perioden und Regionen der westlichen Kulturgeschichte besonders zur Geltung kamen.

Grundsätzlich halte ich es für richtig zu sagen, der Buddha lehre, dass es keine wesentliche Grenze zwischen den Individuen und ihrer Umwelt gibt. Eine andere Frage ist, wie sich dies sprachlich darstellen lässt, wohl nur ungenügend. Daher kommt sicher auch das Befremden, das sich einstellt, wenn man Beschreibungen der Erlebnisse liest, die dies veranschaulichen wollen.

Der Buddha sagte selbst einmal zu seinem Jünger Ananda, dass seine Lehre keine 500 Jahre überdauert.7 Was meinte er wohl damit? Sicherlich postulierte er keine statische Lehre, keine sich über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende nicht oder nur sehr wenig verändernde Religion. Das stände im Widerspruch mit grundlegenden buddhistischen Lehren des Wandels aller Dharmas. Es ist erstaunlich, dass viele Anhänger des Buddhismus einerseits die Lehre vom Wandel und der Leerheit aller Dinge vertreten, diese Lehre aber nicht selbst auf die buddhistischen Lehren anwenden wollen. Vermutlich entspringt dies dem Bedürfnis des besonders religiösen oder spirituell suchenden Menschen, etwas Unvergleichliches schwarz auf weiß zu besitzen, an das er sich für immer festhalten kann. So betrachten bestimmte Gruppierungen des protestantischen Christentums das Neue Testament als verbindliches und autoritatives Wort Gottes, an dem sich nicht rütteln lässt, und für viele Anhänger des Islam ist eine historische Koran-Forschung Blasphemie.

Um der Fortentwicklung der buddhistischen Lehre einen Sinn abzugewinnen, hilft vielleicht ein Exkurs in die Bahá´í-Lehren. Diese gehen davon aus, dass jedes Zeitalter bestimmte vergeistigte, vorbildliche und charismatische Menschen erfordert und hervorbringt. Diese brächten die Entwicklung der Menschheit weiter. Die Bahá´í unterscheiden auch zwischen absoluter und relativer Wahrheit. Es gebe einen Kern von verbindlichen Normen, aber dann auch eine Gestalt religiöser Lehren und Offenbarungen, die sich fortlaufend verändere.8

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Ist nicht gerade ein Festhalten an einer „urprünglichen, unverfälschten Lehre“ ein romantisches Ansinnen im Sinne einer Abkehr von der Zivilisation, eines „Zurück zum Ursprünglichen“ eines „Zurück zur Natur“?

Sich selber anzuschaun, der Schöpferkraft bewußt,
Erschuf Gott die Natur, den Spiegel seiner Lust.
Im Anblick der Natur, wenn du dich fühlst erbaut,
Da hast du ihn belauscht, der in den Spiegel schaut.9

Friedrich Rückert (1788- 1866)

Ist es nicht gerade in der modernen Gesellschaft besonders schwer, den Dharma zu verwirklichen? Offenbar suchen einige Menschen, die mit den Zumutungen und Widersprüchlichkeiten der Moderne nicht zurechtkommen, die die unendlichen Möglichkeiten und Risiken der modernen Gesellschaft nicht ertragen, ihr Heil in einem rückwärtsgewandten Einsiedler-Dasein.

Nach dem Gleichnis von der Udumbara-Blume10 übertrug der Buddha den Dharma auf Mahakashyapa in Form einer Blume. Mahakashyapa lächelte und verstand die Bedeutung der Geste des Buddhas. Die Transmission des Dharma sei geschehen durch diese wortlose Interaktion, so glauben viele Buddhisten. Was ist eine Blume? Ein Teil des Universums, der nur durch das Zusammenwirken verschiedener Faktoren (Licht, Wasser, Nährstoffe, Sauerstoff etc.) ins Leben gerufen wird und am Leben bleiben kann. Die Blume kann nicht ohne ihre Umwelt existieren. Der Buddha zeigte durch die Blume die Verwobenheit aller Lebewesen und Daseinsfaktoren.

Gegenwärtige buddhistische Lehrer, die die Interdependenz aller Daseinsfaktoren lehren, wie der vietnamesische Zen-Meister Thich Nhat Hanh, gehen nicht von einem „stabilen“ Intersein aus. Natürlich ändern sich auch die Verhältnisse der Daseinsfaktoren untereinander, gegeben dagegen scheint nach dieser Lehre zu sein, dass die Dharmas (oder „Erscheinungen“ wie Karl Eugen Neumann auch dieses mehrdeutige Wort übersetzt) keine voneinander isolierten Entitäten sind.

Es ist ziemlich sicher, das die Übertragung des Dharma von Gautama Buddha auf Mahakashyapa in Form des Gleichnisses der Udumbara-Blume nicht in Indien, sondern in China entstanden ist, da uns in den Sûtra aus Indien diese Geschichte nicht überliefert ist,“

schreibt Prof. Dr. Yudo J. Seggelke.

„Daher gab es von einigen Buddhisten die Kritik, dass das Gleichnis der Udumbara-Blume nicht authentisch sei und daher keine große Bedeutung für den wahren Buddhismus habe. Meister Dôgen lehnt eine solche Kritik grundsätzlich ab, weil auch die Sûtra außerhalb von Indien, die von wahren buddhistischen Meistern entwickelt, eingebracht und weiter übertragen werden, wahrer Buddhismus sind und nicht gering geschätzt werden dürfen. Er spricht von den großen chinesischen Meistern auch oft als von ewigen Buddhas und meint damit nicht nur Gautama Buddha, sondern auch seine großen Nachfolger, die voll erwacht waren und den wahren Buddhismus in ihrem Leben verwirklicht hatten.“

1 „The basic spiritual illness. Romantic/humanistic psychology states that the root of suffering is a sense of divided self, which creates not only inner boundaries — between reason and emotion, body and mind, ego and shadow — but also outer ones, separating us from other people and from nature and the cosmos as a whole.“ This act integrates the divided self and dissolves its boundaries in an enlarged sense of identity and interconnectedness with other human beings and nature at large. Human beings are most fully human when free to create spontaneously from the heart. The heart’s creations are what allow people to connect.“

2 „Traditional Dharma calls for renunciation and sacrifice, on the grounds that all interconnectedness is essentially unstable, and any happiness based on this instability is an invitation to suffering.“

3 The Dharma, however, teaches that the essence of suffering is clinging, and that the most basic form of clinging is self-identification, regardless of whether one’s sense of self is finite or infinite, fluid or static, unitary or not.

4 Georg Grimm, Die Lehre Des Buddho. Die Religion Der Vernunft Und Der Meditation, ed. M. Keller-Grimm (Wiesbaden – Wien: R. Löwit – Salzer – Ueberreuter, 1979).

5 Edward Conze, Eine kurze Geschichte des Buddhismus. Titel der Originalausgabe: A Short History of Buddhism, hg. & übers. von Friedrich Wilhelm (Suhrkamp, 1986), 106 ff.

6 Jogye Order of Korean Buddhism und Sungshim Hong, Hrsg., The Great Seon Masters of Korea (Seoul: Eastward, 2007).

7 Dazu auch: Ibid., 11f.

8 Ähnlich heißt es bereits bei Nagarjuna: „Die Buddhas, von zwei Wahrheiten (satya) abhängend, lehren den lebenden Wesen (sattva) die Lehre (dharma); die eine (ist die) Wahrheit des weltlichen Umgangs (loka-vyavahara), die andere ist Wahrheit des höchsten Sinnes (paramartha- satya).“ (XXIV. 8.) „Wenn ein Mensch die zwei Wahrheiten nicht erkennen (und) unterscheiden kann, dann erkennt er nicht in der tiefen Buddha-Lehre die echte und tatsächliche Bedeutung.“ (XXIV. 9.) [Indische Philosophie: Die mittlere Lehre des Nagarjuna. Asiatische Philosophie – Indien und China, S. 23353, vgl. Nagarjuna, S. 158]

9 Rückert: Die Weisheit des Brahmanen. Deutsche Lyrik von Luther bis Rilke (Digitale Bibliothek, S. 89082), vgl. Rückert-Werke Bd. 2, S. 88

10 Dogen Zenji, Shobogenzo – The Treasure House of the Eye of the true Teaching – A Trainee’s Translation of Great Master Dogen’s Spiritual Masterpiece, übers. von Hubert Nearman (Mt. Shasta: Shasta Abbey Press, 2007), S. 116, 195, 600, 625, Kapitel 57, 68, 66 Kapitel, S. 761: “When the Flower comes into bloom, the whole world arises.”.


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