Systemabsturz – Japan und die Welt

Die atomare Bedrohung in Korea geht dieses Mal nicht vom koreanischen Norden aus; auch nicht vom Süden des Landes, vom “atomaren Schutzschirm” – gemeint, aber nicht öffentlich gesagt, ist hiermit natürlich kein funktionierendes Raketenabwehrsystem, denn das gibt es (in Südkorea) nicht, sondern die mobilen luft- und seegestützten Abschussrampen für amerikanische Atomsprengköpfe. Dieses Mal droht die Gefahr aus Japan. Die Koreaner, mit denen ich sprach, befürchten aber nicht so sehr, dass radioaktive Partikel von dem 1187 Kilomenter von Seoul entfernten Fukushima in den Westen nach Korea herüber wehen (Tschernobyl war mit 1612 Kilometern weiter von der früheren deutschen Hauptstadt Bonn entfernt). Denn die öffentlichen Forschungsinstitute geben Entwarnung – wahrscheinlich aus denselben Gründen wie in Japan. Die Bevölkerung soll ruhig bleiben, keine Zweifel an der Stromversorgung durch die Kernergie sollen wachwerden. Schließlich bezieht Südkorea 31% seines Stromes aus 18 Kernkraftwerken. Zudem zeigt die Windrichtung derzeit noch gen Osten; eher ist derzeit das mehrere Tausende Kilomenter entfernte Kalifornien von radioaktiven Partikeln betroffen. Allerdings befürchten Koreaner, die sich im Internet artikulieren, radioaktiven Niederschlag in Korea oder kontaminierte Lebensmittel.

Distance-Fukushima-Seoul
Entwarnung für Südkorea?

Das Panorama der Stimmungen in Korea angesichts der Katastrophe ist groß. Der staatliche koreanische Sender KBS berichtetete in den vergangenen Tagen ständig über die Erdbeben- und Atomkatastrophe in Fukushima. Der Sender YTN strahlt von morgens bis abends ununterbrochen aktuelle Berichte aus über das Erdbeben und die zerstörerischen Fluten. Gleichgültigkeit angesichts des Leides im Lande der ehemaligen Kolionalherren, Interesse, Mitleid mit den Menschen dort, Hilfs- und Spendenbereitschaft wechseln sich ab. Nach meinen Einschätzungen überwiegt das Mitgefühl. Die koreanische Regierung hat eine 102 köpfige Rettungsmannschaft der Luftwaffe in die Krisenregion nach Japan geschickt. Auch hat sie Schiffe, die natürliches Gas transportieren, angehalten, in Japan auftretende Energie-Engpässe abzuschwächen. Über die eigene Reaktorsicherheit diskutieren die Süd-Koreaner im Lande allerdings weniger, eher führt die Regierung Gespräche über Reaktorsicherheit mit China und Japan, obwohl auch in Korea 40 Jahre alte Reaktoren stehen.

Hätte sich Japan besser vorbereiten können?

Japan hat viel Erfahrung mit Erdbeben. In den Zentralen hielten viele Gebäude auch den stärkeren Erdbeben stand. Die Aufräumarbeiten in den Erdbebengebieten schreiten überraschend leise und effektiv voran. Aber auf dieses Tsunami-Erdbeben war Japan nicht gut vorbereitet, schon gar nicht auf die Reaktorkatastrophe, vor deren Möglichkeit die japanische Regierung schon vor drei Jahren von der Internationalen Atom Energie Behörde gewarnt wurde. Offenbar ist es nun gelungen, den Stromanschluss der Kühlaggregate des zweiten und sechsten Reaktorblockes in Fukushima wieder herzustellen. Allerdings ist die Situation des auf Plutonium-Basis arbeitenden Reaktors 3 nach wie vor sehr kritisch.

Die kühlen Verlautbarungen des Regierungssprechers Yukio Edano entsprechen der zurückhaltenden japanischen Mentalität; seine Gefühllosigkeit und Gefasstheit wirkt aber angesichts der Katastrophe grotesk. Geht es hier wirklich nur darum, das Leben von Zivilisten zu schützen, eine Panik zu vermeiden oder will hier eine Bürokratie (unschöne Erinnerungen an die Ereignisse in Duisburg vom Juli 2010 werden wach) ihre Köpfe retten? Schade, dass es wieder eines solchen katastrophalen Anstoßes bedurfte, die Diskussion über den Ausstieg aus der Kernkraft zu reaktivieren.

Die drei Ebenen des Ausstieges

In Deutschland spricht man heute, genauer gesagt, über den Ausstieg aus dem Austieg aus dem Austieg aus der Kernenergie. Der etappenweise Austieg aus der Kernenergie wurde bekanntlich von der rot-grünen Regierung eingeleitet. Die konservativ-liberale Regierung setzte sich dann mit einem Atomkompromiss vom Oktober 2010 über den Mehrheitswillen der Bevölkerung hinweg. Die Vereinbarung sieht eine durchschnittliche Verlängerung der Restlaufzeiten bestehender Atommeiler um 12 Jahre vor (“Austieg aus dem Austieg”). Schon im vergangenen Jahr berichtete das konservative Wochenmagazin Focus, dass die meisten Deutschen sich von der gefährlichen Atomenergie verabschieden wollen. Nun will die derzeitige Regierung, nicht zuletzt aus wahltaktischen Gründen, diese mit den Kernkraftwerksbetreibern festgezurrte Entscheidung wohl teilweise wieder rückgängig machen. Tatsächlich befürworten die Bundesbürger nach einer ARD-Umfrage mehrheitlich den Austieg aus der Laufzeitverlängerung.

Für die Umfrage im Auftrag der ARD-“Tagesthemen” befragte das Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap 909 Wahlberechtigte bundesweit telefonisch.

Die von der Bundesregierung angekündigte Aussetzung der Laufzeitverlängerung und Überprüfung aller deutschen Atomkraftwerke befürworten laut der Befragung 80 Prozent der Deutschen, lediglich 18 Prozent lehnen dies ab.

Welt-Online 14.3.2011

Politische Systeme, etwa Staaten oder auch das internationale System, lassen sich mit Computerprogrammen vergleichen. Auf einem relativ alten Rechner (der vergleichbar mit den geologischen und physikalischen Bedingungen der Erde ist) läuft ein ziemlich modernes, aber längst nicht ausgereiftes Betriebssystem, das schon einige Jahre auf dem Buckel hat (damit sind die sich über Jahrhunderte herausgebildeten Institutionen gemeint). Wirtschaftsunternehmen oder Staaten versuchen nun “innovativ” zu sein, d.h. sie entwickeln neue Programme (Verfahren zur Lösung bestimmter vorhandener und nicht vorhandener Probleme), die teilweise recht gut auf dem Betriebssystem laufen, aber oft mit ihm inkompatibel sind.

Zu diesen Programmen gehören die “Abschreckung mit Atomwaffen”, die Energiegewinnung aus fossilen Brennstoffen und das zivile Atomprogramm. Diese Programme sollen stabile Verhältnisse gewährleisten und das Energieproblem dauerhaft lösen. “Wir müssen unsere Kernwaffenpotentiale abbauen”, sagen die Supermächte, ahnden aber in Wirklichkeit den Bau von Atomwaffen bei anderen Staaten, während sie selbst zwar alte Kernwaffenbestände abbauen, dabei aber weiter neue Generationen von Atomwaffen “aus Abschreckungsgründen” entwickeln. “Wir brauchen Öl und müssen ein widerspenstiges Regime beseitigen”, denken die Staaten, die nun in Libyen eingreifen und dort von Menschenrechten sprechen. (Das öffentliche Gedächtnis scheint gestört zu sein. Wer greift denn im Irak und in Afghanistan seit Jahren aus der Luft Zivilisten an?). “Wir sind auf Atomstrom angewiesen”, sagen die Kernkraftwerksbetreiber und erpressen die Regierungen. Die Verfechter des freien Marktes drücken dabei gerne – die Gefahren des Klimawandels oder der Kernenergie herunterspielend – beide Augen zu.

Internationales Vabanquespiel

In Verkennung der Möglichkeiten des Betriebssystems und der Hardware-Voraussetzungen wollen gesellschaftliche Einflussgruppen, teils motiviert durch einen kindlichen Spieltrieb, teils angetrieben von geostrategischen oder kurzfristigen wirtschaflichen Interessen, möglichst viele “neue” Programme installieren und scheinbar “notwendige” alte Programme beibehalten. Die Auszreizung des Rechners gleicht dabei einem Glücksspiel. Denn viele unausgereifte Programme (“Fremdprogramme” würde man in Linux-Kreisen sagen) stören den reibungslosen Ablauf des Betriebssystems. Es ist ein Wunder, dass dies nicht schon viel früher zum Absturz einzelner Regionen, Staaten oder des internationalen Systems geführt hat.

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