Heute vor 90 Jahren, am 14.6.1920, stirbt Max Weber im Alter von 56 Jahren in München. Weber, Professor in Freiburg und Heidelberg, war einer der Gründerväter der modernen Sozialwissenschaft. Getrieben vom Drang zu verstehen, zu ergründen, was die moderne Welt zusammenhält, befasste er sich schon als Jugendlicher mit erkenntnistheoretischen, geschichtlichen und literarischen Problemen. Als Student stürzte er sich mit ungebremstem Wissendurst auf die damaligen nicht-naturwissenschaftlichen empirischen Wissenschaften (vor allem Geschichtswissenschaft und Ökonomie). Von „Hause aus“ war er eigentlich Jurist (Er hatte sich bei dem Mediziner und Juristen Levin Goldschmidt 1889 in Berlin promoviert, Titel der Dissertationsschrift: Die Entwicklung des Solidarhaftprinzips und des Sondervermögens der offenen Handelsgesellschaft aus den Haushalts- und Gewerbegemeinschaften in den italienischen Städten.)
Dies hielt ihn nicht davon ab, seine umfangreichen Kenntnisse in der Geschichtswissenschaft, Erkenntnistheorie, Philosophie, Ökonomie, Religions- und Kirchengeschichte weiter auszubauen. Er hätte gut und gerne in mindestens drei der eben genannten Bereiche wissenschaftlich Fuß fassen können, d.h. einen Lehrstuhl haben können. Um die russische Revolution zu verstehen, lernte er in weniger als drei Monaten so viel Russisch, dass er das Revolutionsgeschehen in den russischen Tageszeitungen verfolgen konnte. Ebenso drang er in verschiedene andere wissenschaftliche Domänen ein, wie die Musiktheorie, die er auch als einen Baustein für seine Modernitätstheorie verwendete. Weber verstand sich nicht als Soziologe, eher nur als „Wissenschaftler“. Doch ihm ging es nicht allein um Erkenntnisgewinn, um Klarheit, für sich, für seine Studenten und sein wissenschaftliches Publikum, sondern das Wissen und die Erkenntnisse, die er als Wissenschaftler produzierte, sollten auch dazu dienen, Probleme zu lösen. Damit betrat er auch die politische Bühne. Er hätte sicher viel zur Versachlichung der politischen Auseinandersetzung in der Weimarer Republik beigetragen, wäre er zu einer einflussreichen Gestalt der Deutschen Demokratischen Partei geworden.
Vielschichtige Folgenabschätzungen und Analysen
Wesentlich differenzierter anlysiert und erklärt er soziale Vergesellschaftungsformen, ökonomische Abläufe, politische und historische Ereignisse als viele seiner heutigen Kollegen. Seine Erklärungen sozialer Erscheinungen, die einerseits von gesellschaftlich bedeutsamen Ideen und kulturellen Faktoren ausgehen, andererseits aber auch die materielle Basis der Gesellschaft in Rechnung stellen, überfordern viele, die soziale Tatsachen auf wenige oder nur auf eine Grundbedingung zurückführen.
Webers Wertfreiheitspostulat zählt zu den am meisten missverstandenen Forderungen. Dabei sind die Grundausagen des Wertfreiheitspostulats recht einfach zu verstehen, wie Weber betont: Aber es handelt sich doch ausschließlich um die an sich höchst triviale Forderung: daß der Forscher und Darsteller die Feststellung empirischer Tatsachen (einschließlich des von ihm festgestellten »wertenden« Verhaltens der von ihm untersuchten empirischen Menschen) und seine praktisch wertende, d.h. diese Tatsachen (…) als erfreulich oder unerfreulich beurteilende, in diesem Sinn: »bewertende« Stellungnahme unbedingt auseinanderhalten solle, weil es sich da nun einmal um heterogene Probleme handelt. (Der Sinn der »Wertfreiheit« der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften. Max Weber: Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 500). Da viele Menschen, gerade auch Sozialwissenschaftler außereuropäischer Länder, Webers Lehre von der Werturteilsfreiheit nicht verstehen, unterstellen sie ihm eine Art westliches Überlegenheits- und Sendungsbewusstsein.
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Max Weber Haus in Heidelberg, Ziegelhäuser Landstraße 17, heute genutzt vom
Kolleg der deutschen Sprache und Kultur der Universtität Heidelberg (Aufnahme: August 2009)
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Vor einem Jahr unterhielt ich mich mit einem koreanischen Philosophieprofessor im Rahmen einer Tagung für interkulturelle Philosphie an der Ewha-Frauen-Universität. Wir sprachen über die berühmten einleitenden Worte aus Webers Vorbemerkung zu den gesammelten Aufsätzen der Religionssoziologie: Nur im Okzident gibt es »Wissenschaft« in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als »gültig« anerkennen... behauptet Weber hier. Aus dem Zusammenhang gerissen, löst diese Aussage bei heutigen Zeitgenossen Befremden aus. Liest man aber den ganzen Text, zeigt sich, dass Weber mit „Wissenschaft“ hier eine spezifisch, westliche Form des Wissenschaftsbetriebes mit beamteten „Fachmenschen“ und ganz bestimmten Rationalitätselementen meint, darunter das natuwissenschaftliche Streben nach Weltbeherrschung, das Streben, Erkenntnisse möglichst empirisch und mathematisch zu untermauern. Das seien Elemente, die sich in anderen Erdteilen auf diese Weise nicht entwickelt hätten.
Zudem bedeutet „gültig“ hier nicht soviel wie „wahr“ oder „allgemeingültig“. Die „Gültigkeit“ ist an eine Anerkennung gebunden, während wahre Aussagen in der Regel nicht davon abhängen, wer oder wie viele Menschen sie anerkennen. Ich gehe davon aus, dass die obige Aussage zur Zeit Webers ihre Berechtigung hatte. Heute kann natürlich nicht mehr davon ausgegangen werden, dass nur eine einzelne Region in der Welt eine Art Enklave der Wissenschaft ist. Zu vielfältig sind heute die wissenschaftlichen Eigenentwicklungen in den Regionen und die Interdependenzen zwischen den Regionen. Nicht zuletzt trug der Imperialismus westlicher Staaten dazu bei – und trägt immer noch dazu bei – , das westliche Wissenschaftsmodell zu verbreiten.
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