Gedanken zum Mauerfall-Jubiläum

„Korea kann Wiedervereinigungskosten senken“, so titelt heute die Korea Times auf der ersten Seite, zwanzig Jahre nach dem Mauerfall in Europa. Der neue deutsche Botschafter in Korea, Hans Ulrich Seidt, gibt einige Hinweise und Ratschläge: Die Koreaner sollten unvoreingenommen Informationen über den Norden sammeln, die den Tatsachen möglichst genau entsprechen. Die Westdeutschen hätten damals geschönten Statistiken aus dem Osten geglaubt.

Zweitens sollten sie gefasst sein auf einen „Wiedervereinigungs-Schock“, der den der Deutschen Anfang der neunziger Jahre bei weitem übersteigen könne. Das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der alten Bundesrepublik habe vergleichsweise näher dem der DDR gestanden als das heute zwischen den beiden Teilen Koreas der Fall sei.

Ja, es stimmt, die Koreaner sollten unvoreingenommen ihre Lage analysieren. Es waren aber sicher nicht nur die Statistiken, die damals in die Irre leiteten. Die alte Bundesregierung wollte die Wiedervereinigung möglichst schnell in trockene Tücher bringen und somit Bedenken der alten Alliierten zerstreuen. Zudem wollte sie 1990 wieder gewählt werden, da galt es Hoffnungen zu machen, von blühenden Landschaften zu sprechen und eine überstürzte Wirtschafts- und Gesellschaftsverschmelzung einzuleiten. Viele Menschen aus den neuen Bundesländern haben diesen Versprechungen gerne geglaubt.
Warum konnten damals die Politiker nicht einfach reinen Wein einschenken? Warum hat man nicht über die gemeinsame Verfassung gesprochen? Der Wille gemeinsam zu denken und auch gemeinsam am Tau in eine Richtung zu ziehen, wäre bestimmt da gewesen. Oder besteht das Volk wirklich nur aus Schafen, die, des Denken unfähig, einen Hirten wollen und brauchen? Hoffentlich wird man in Korea klüger und ehrlicher sein.

Der zweite Hinweis des Botschafters ist zutreffend. Nur ein Beispiel: Nordkorea ist wesentlich isolierter als es damals die DDR war. Ältere Menschen dürfen nicht, wie in den letzten Jahren der DDR, unbegrenzt wieder mit ihren Familienangehörigen zusammen leben. Es sind nur kurze Wiedersehenstreffen möglich, dann müssen sich wieder die nördlichen von ihren südlichen Verwandten trennen. Früher konnte man Westfernsehen in der DDR sehen, wenn es auch von den Oberen nicht gewünscht war. Im Norden Koreas hat das Gros der Menschen dagegen heute keinen Zugang zu den Massenmedien, vom Internet ganz zu schweigen. „Das gibt es dort für die normale Bevölkerung nicht“, meinte kürzlich ein im Goethe-Institut in Pyôngjang beschäftigter Lektor zu mir.

Schade, dass auch hier in Korea, die sogenannte „Wiedervereinigung“ (warum eigentlich „wieder?“ – war mir schon damals nicht klar), in erster Linie unter wirtschaftlichen und finanziellen Gesichtspunkten gesehen wird.

Den ersten Ratschlag des Botschafters könnte man auch noch um ein wichtiges Detail des Nord-Korea Kenners Bruce Cumings ergänzen. Immer wieder sagen Wissenschaftler, Politiker und Journalisten, meint Cumings, der Norden befinde sich kurz vor dem Kollaps. Es handele sich nur noch um wenig Jahre oder Monate, das sagte man auch Anfang der Neunziger Jahre, kurz vor der Krise 1994. Doch der Norden hat sich gehalten. Man solle Nordkorea nicht unterschätzen, meint Cumings.


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Kommentare

2 Antworten zu „Gedanken zum Mauerfall-Jubiläum“

  1. Avatar von Videbitis

    Hat Nordkorea eingentlich auch noch einen „großen Bruder“? Wenn ich mich recht erinnere, war das mal China, oder? Die DDR hatte ja versucht, eine viel autoritärere Linie weiterzufahren, als es im „Bruderstaat“ Sowjetunion durch die Perestroika inzwischen üblich war. Alle Signale aus dem Osten standen auf Entspannung, anders, als noch im Jahr 1953.
    Die Bewohner der DDR kannten die westliche Kultur zwar durch das Fernsehen, allerdings nur die Fernsehrealität, also viel Friede, Freude, Eierkuchen. Erst neulich habe ich in einem Interview gehört, wie schockierend es für viele gewesen ist zu erleben, mit welcher Rücksichtslosigkeit und Härte man vom Westen über den Tisch gezogen wurde, der reinste Raubtierkapitalismus.

  2. Avatar von Perspektivator

    Ja, China hat sich im vergangenen Jahrhundert meistens hinter Nordkorea gestellt, besonders im Korea-Krieg. Heute denke ich, verhalten sich die Chinesen eher reservierter gegenüber Nordkorea. Vermutlich ziehen sie aber den gegenwärtigen Status Quo einem vereinigten Korea vor. Denn das wäre dann wahrscheinlich immer noch ein Verbündeter der USA.

    Zunächst „engagierte“ sich auch die Sowjetunion recht stark in Nord-Korea, sprich, sie besetzte das Land, aber Kim Ilsong verhielt sich oft so, als habe er alleine die Japaner vertrieben. Später lieferte Russland auch Industrieanlagen, Materialien zum Aufbau von Kernanlagen und Waffen. Im Buch von Hanns W. Maull und Ivo M. Maull „Brennpunkt Korea“ (München 2004, S. 198) lesen wir: „Nordkoreas Beziehungen zu Russland und zur Europäischen Union spielen derzeit nur noch eine untergeordnete Rolle. Seit 1990 hat die Sowjetunion, bis dahin über 30 Jahre der wichtigste Waffenlieferant und Unterstützer des Landes, Nordkorea faktisch zugunsten des Südens fallen gelassen.“

    1990 nahm ich im Sommer am Harz Gebirgslauf in Wernigerode teil. Die Mauer war schon gefallen, die formale Wiedervereinigung aber noch nicht vollzogen. Damals waren viele fliegende Händler und Versicherungsagenten unterwegs. Das sah und hörte ich. Sie haben wirklich die Leute im Osten eiskalt über den Tisch gezogen.

    Ich würde sagen, das Fernsehen hat ein unrealistisches Bild vom Westen vermittelt. Zu dieser Zeit sprach mich jemand an: „Du sag‘ mal, kann man bei euch eigentlich ohne um sein Leben zu fürchten durch die Stadt gehen?“ Ich verstand zunächst nicht, was er meinte. Dann sagte er, man sehe so viel Gewalt auf den Bildschirmen, dass er sich vorstellt, man spiele mit seinem Leben, wenn man in der BRD auf die Straße geht.

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