Samstag, 14.2.2009
Im 20. Jahrhundert waren es die Japaner, unter deren Besatzung und Kriegsführung die Chinesen am meisten zu leiden hatten. Es gibt unterschiedliche Schätzungen darüber, wieviele Chinesen aufgrund des Zweiten Weltkrieges (1937 – 1945) starben. In der “Fischer Weltgeschichte” heißt es: “Im Zweiten Weltkrieg wurden vermutlich 35 bis 45 Millionen Menschen [insgesamt] getötet.” Es tauchen dort allerdings keine Opferzahlen von toten Chinesen auf (Band 34: Das Zwanzigste Jahrhundert I. Europa 1918-1945: 13. Der Zweite Weltkrieg 1939-1945.); der Brockhaus aus dem Jahre 2006 geht von 10 bis 20 Millionen Chinesen aus.
Die deutsche Version von Wikipedia beziffert die Zahl der getöteten Chinesen auf 13,5 Millionen, wovon 10 Millionen Zivilisten seien. Gerhard Schreiber meint in seinem Buch “Kurze Geschichte des Zweiten Weltkrieges (München: Beck, 2005): “Gesprochen wird aber auch von 19 Millionen [chinesischen] Toten” (S. 116). Die englische Version von Wikipedia geht von 20 Millionen umgebrachten Chinesen aus. Dai Shifeng nennt in seiner “Chinesische[n] Geschichte” eine Opferzahl von 31,5 Millionen (S. 205). In der Cambridge History of China, hrsg. von Deni Stwitchet und John K. Fairbank (Volume 13, Republican China 19121949, Part 2, Cambridge University Press 2008) heißt es auf Seite 547: “The number who died from war-related causes – starvation, deprivation of medicine, increased incidence of infectious diseases, military conscription, conscript labour, etc. – was doubtless very large. Ho Ping-ti’s estimate of 15 -20 million deaths seems credible … Ch’en Ch’i-t’ien put the total deaths at 18,546,000, but did not indicate his source … Chiang Kai-shek’s son, Wego W. K. Chiang, more recently put the number of casualties’ at 3.2 million for the military and ‘some twenty-odd millions’ for civilians …”
Es gibt also unterschiedliche Einschätzungen über die chinesischen Opferzahlen im Zweiten Weltkrieg. Die in historischen Werken genannte Zahl von Menschen, die aufgrund kriegerischer oder genozidaler Aktionen starben, beruht meistens auf Schätzungen. Dabei ist nicht immer klar ersichtlich, was den Tatsachen entspricht und was auf Irrtümern beruht, was auf Fehler in der Methodologie, bewusste Irreführung oder Propaganda zurückgeht. Wenn es aber stimmt, dass etwa 20 Millionen Chinesen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen, übersteigt diese Zahl bei weitem die Opferzahlen, die andere Völker oder Länder – ausgenommen die Sowjetunion – im Zweiten Weltkrieg zu beklagen hatten.
Die chinesische Revolution
Imperiale Mächte beanspruchten also auf kriegerische Weise große Teile des chinesischen Gebietes. Es wundert daher nicht, dass Länder wie China sich vom imperialen Joch befreien wollten und dass ebenso jene Länder, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die nächsten “Übernahmekandidaten” sind, durch gewaltige Anstrengungen, die oftmals revolutionärer Natur sind, ihr Land modernisieren und militärisch befestigen. Diese Anstrengungen sind verständlich, aber oft nicht vernünftig. Sie haften an einem berechtigten Anliegen, vermitteln aber aufgrund ihrer rigorosen Durchführung, dass dieses Anliegen nicht der Sorge um das Wohlergehen des Volkes entsprang, sondern eher der Anlass einer verbrecherischen Politik war.
Chinas Anstrengungen im 20. Jahrhundert spiegelten sicher keine harmonische, evolutionäre Gesellschaftsentwicklung wieder. In den dreißiger Jahren fielen zehntausende Chinesen brutal durchgeführten Reformprozessen zum Opfer. In erster Linie hatten sich diese Menschen der unmittelbar eingeleiteten radikalen Landreform widersetzt. Während des “großen Sprunges” zwischen 1959 und 1961 starben nach Schätzungen des Historikers Jean-Luis Margolin 20 – 45 Millionen Chinesen. Die meisten dieser Menschen verhungerten aufgrund von wenig durchdachten landwirtschaftlichen Anbaumethoden und wegen fehlgeleiteter Kollektivierungs- und Industrialisierungsmaßnahmen. In der “Kulturrevolution” (1966 – 1976) starben 400000 bis eine Million Chinesen, darunter viele Verantwortliche in den Stadt- und Provinzerwaltungen nach Entmenschlichungskampagnen, aber auch auch zahlreiche “stinkende” Intellektuelle, Lehrkräfte, Wissenschaftler, Mediziner und Schriftsteller.
Blick auf den Tiananmen-Platz. Deutsche Busse?
Wir kommen auf einige Geschehnisse im 20. Jahrhundert zu sprechen. Die Tourbegleiterin meint, Mao habe auch “viele Fehler” gemacht (von Verbrechen spricht sie allerdings nicht). Im Lonely Planet Reiseführer steht, radikale Kräfte hätten während der Kulturrevolution die “Verbotene Stadt” schleifen wollen. Darauf spreche ich die Tourbegleiterin an. Sie meint, Mao habe nie dieses Anliegen gehabt, die kommunistische Partei habe sich sogar im Gegenteil für den Erhalt der verbotenen Stadt eingesetzt. Die Viererbande habe aber solche Ideen vertreten.
Tor der göttlichen Militärkunst
Wir verlieren uns später in den unendlichen Weiten der Palastanlage, haben aber für diesen Fall ein Treffen vor dem Südeingang vereinbart. Dort prangt das Bildnis des großen Führers Mao Tse Tungs. Dahinter (oder davor), je nach Standpunkt, befindet sich der Tiananmen-Platz. Ich frage unsere Tourbegleiterin auch wegen den Geschehnissen vor 20 Jahren auf diesem Platz. Was sie darüber denke, möchte ich wisssen. Ich erhalte eine allgemeine Antwort. Es habe neben der kommunistischen Partei eine andere Bewegung gegeben, die die Studentenbewegung für sich instrumentalisieren wollte. Viel mehr erfahre ich von ihr nicht. Sie war zur Zeit des brutalen Niederschlagens der Studentenbewegung noch ein Kind, und die staatlich kontrollierten Medien boten ihr vermutlich keine alternativen Informationen über die Demokratiebewegung an. Offenbar enthalten auch die gedruckten Reiseführer über die damaligen Ereignisse wenige Informationen.
Auf dem Tiananmen-Platz und im Gefolge der Kundgebungen starben damals hunderte – nach chinesischen Angaben, und tausende Protestierende – nach ausländischen Quellen. Die chinesische Führung dachte damals, die Notbremse ziehen zu müssen. Denn das Verwirklichen der Forderungen von mehr demokratischer Beteiligung, ökonomischen Reformen sowie Presse- und Meinungsfreiheit hätte die Doktrin der Partei als dem “führenden Kern des chinesischen Volkes” (Mao Tse Tung) in Frage gestellt.
Nach der Besichtigung des Tiananmen-Platzes gehen wir zur einer chinesischen Klinik. Ein chinesischer Arzt erklärt uns die Grundprinzipien der chinesischen Medizin in einem flüssigen amerikanischem Englisch und zeigt dabei gelegentlich mit einem Stab auf ein Schau
bild. Im Westen kuriere man Krankheiten, die Chinesen seien aber darauf bedacht, die Menschen gesund zu erhalten. Kaiser hätten ihre Ärzte nicht bezahlt, wenn diese eine Krankheit kurierten, sondern sie hätten ihre Ärzte zur Kasse gebeten, wenn sich eine Krankheit eingestellt habe. Er redet schnell, wie seine Reiseführerkollegen. Man hat kaum die Zeit eine Frage zu stellen. Trotzdem möchte ich wissen, was die chinesische Medizin zur Zahgesundheit zu sagen hat. Der Arzt meint, Leber und Niere, richtig arbeitend, trügen zur Entgiftung des Körpers bei, dies schlage sich auch in gesünderen Zähnen nieder.
Später massiert ein jüngerer Bursche meinen linken Fuß. Das ist alles andere als angenehm. Er drückt seine Finger tief in die Fußsohle und zieht dann den Finger von oben nach unten kraftvoll durch die so entstandene Furche. Manchmal könnte ich schreien. Er spricht nur ein paar Brocken Englisch, doch ein Wort, das er kennt, ist “relax”; er spricht es immer wieder, wenn er mein schmerzverzerrtes Gesicht sieht. Schön, denke ich, vermutlich habe ich nicht die notwendige “Massiererfahrung”, hätte ich diese, wäre die Behandlung wohl eine angenehme Prozedur. Auch bei koreanischen Friseuren ist eine “Kopfmassage” üblich: Der Friseur drückt die Kuppen der Mittelfinger fest auf den Hinterkopf und bewegt sie dann von oben nach unten und wieder nach oben. Vielleicht erhöht dies ja auch das Denkvermögen des Massierten …
Während der Junge nun meinen rechten Fuß durchwalkt, fühlt ein älterer Arzt, der mittlerweile den Raum betreten hat, den Anwesenden den Puls, auch stellt er ihnen einige Fragen zu ihrer Lebensgeschichte und zu gegenwärtig auftretenden Problemen, ob sie etwa viel Stress im Beruf haben. Er meint, meine Leber sei nicht besonders stark; eine ähnliche Diagnose stellte bereits Dr. Royer, ein östereichische Arzt in Seoul, der nach traditionell koreanischer und chinesischer Medizin arbeitet. Wenn zwei Ärzte nur durch Fühlen des Pulses zu demselben Ergebnis kommen, ist das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Zufallstreffer. Ich bin erstaunt, dass diese Ärzte allein durch das Wahrnehmen des Pulses so viele Information über den jeweiligen Organismus erhalten können. Der ältere Arzt spricht nun über Volksgesundheit. Die Gesundheit der Chinesen sei besser als die der Europäer, weil die Chinesen sich mehr auf die Prävention von Krankheiten konzentrierten und ein gesünderes Leben führten.
Leben die Chinesen gesund?
Diese Aussagen erscheinen mir aber eher dem Bedürfnis nach wirksamer PR als der Wirklichkeit zu entsprechen. Denn am selben Wochenende (14. / 15. Februar 2009) schreibt die China Daily auf Seite 4, dass die Diabetisrate unter Chinesen im vergangenen Jahrzehnt um 30,5 Prozent nach oben geklettert sei, die Rate von Personen mit überhöhtem Bluthochdruck habe um 17,6 Prozent zugenommen, Erkrankungen der Herzkranzgefäße um 63 Prozent und heute gebe es in China 60 Prozent mehr Fälle bösartiger Tumore als vor zehn Jahren. “Statistiken zeigen, dass 15 Prozent der chinesischen Bevökerung in gesunden Verhältnissen leben, 15 Prozent leben unter ungünstigen gesundlichen Bedingungen und die verbleibenden 70 Prozent sind an der Grenze zu einem ungesunden Leben … In dieser zunehmend materialistischen Welt führt die blinde Anbetung des Geldes auch bei vielen Menschen zu einer Verschlechterung ihrer Gesundheit”. Über die jungen Leute sagt die China Daily: “Sie machen viel Geld auf Kosten ihrer Gesundheit in ihrer ersten Lebenshälfte und verbrauchen dieses dann, um in der zweiten Lebenhälfte überleben zu können”. Ich weiß nun nicht, wie sich die Krankheitsraten in den oben genannten Bereichen in den vergangenen zehn Jahren in westlichen Staaten entwickelt haben. Dennoch lassen die erwähnten Zahlen die These vom gesunden chinesischen Volkskörper als fragwürdig erscheinen.
Nun “verschreibt” der ältere Arzt einige chinesische Mixturen. Ich sehe aber vom Kauf der Medizin ab, vielleicht später. Ich hatte bereits in Korea eine recht kostpielige “Kur” mit bitterer traditioneller Medizin gemacht.
Wir fahren nun zum Himmels-Tempel, einem “perfektem Symbol der Ming Architektur” schreibt der Lonely Planet Reiseführer. Hier führte der “Sohn des Himmels” Riten durch, mit denen er gute Ernten herbeiführen wollte, göttliche Klarheit erlangen und die Vergebung der Sünden des gemeinen Volkes erreichen wollte. Der Tempel strahlt viel Ruhe und Kraft aus. Erinnerungen werden wach an die Gefühle, die ich vor 24 Jahren beim Besichigen der Baháí-Anlage in Haifa hatte.
Himmelstempel (Halle des Erntegebetes)
Danach fahren wir zum Sommerpalast, in dem die Kaiserinnenwitwe Xixi Hof hielt. Auch deutsche Truppen nahmen in Kooperation mit anderen Mächten den Palast am Anfang des 20. Jahrhunderts in Beschlag.
Buddhistischer Räucherpalast
Auf der Rückfahrt zum Hotel fahren wir wieder am höchsten Gebäude Bejings vorbei. Davor befindet sich eine mehrstöckige Baracke, die der Abrissbirne zum Opfer fällt. Ich darf allerdings das Gelände nicht mehr weiter betreten. In der Nähe liegt auf der Straße ein Mann. Ein anderer Mann steht daneben und ruft einen Krankenwagen. Zunächst scheint das die anderen Leute aber nicht zu bekümmern, dass da jemand auf der Straße liegt. Dann strömen einige Schaulustige zum Ort des Geschehens und als der Krankenwagen endlich ankommt, entspinnt sich ein durch Alkohol weiter angeheizter Streit unter den Anwesenden.
Am Samstagabend schauen wir in ein Kaufhaus, dies liegt etwa hundert Meter von der Yonganli U-Bahn-Station entfernt. Im obersten Stock gibt es ein eher westliches Restaurant, das auch Pizza anbietet. Im vierten Stock erhält man Elektronikartikel. Die Kameras sind nicht günstiger als in westlichen oder koreanischen Geschäften, eher teurer. Einen Stock tiefer gibt es aber günstige Haushaltswaren. Ich kaufe für knapp 10 Euro eine stilvolle Kaffepresse. Wir gehen schließlich in das Erdgeschoss, in dem viele Läden westliche Klamotten für jüngere Leute und Ledersachen anbieten. Wir wollen dort eigentich nichts kaufen, wollen aber zum Lebensmittelmarkt, der auf dem gleichen Stockwerk gegenüberliegt.
Die jungen Verkäuferinnen im Erdgeschoss reden uns offensiv an; einige verfolgen uns und versuchen uns in den engen Gängen zu überzeugen, etwas anzuschauen und zu kaufen. Sie sind umtriebiger, aggressiver und sprechen besseres Englisch als die Verkäuferinnen in Korea, die mir begegnet sind. An ein gemütliches Bummeln und Schauen ist nicht zu denken. Wer hier durchgeht, muss damit rechnen, zum Kaufen gezwungen zu werden.
Endlich haben wir die Lebensmittelabteilung erreicht. Hier ist zum Glück ein Schauen und Vergleichen ohne Kaufzwan
g möglich. Ich kaufe etwas grünen Tee, Oolong-Tee, Tsingtao Bier – welches zurückgeht auf deutsche Siedler, die im Jahre 1903 die Germania-Brauerei in Kiaoutschou gründeten – und ein paar andere Kleinigkeiten. J. deckt sich mit Bananen, Konserven und Sojamilch ein.
Auf dem Weg zum Hotel bedrängt uns wieder eine Sockenverkäuferin. Sie will uns zehn Socken im Pack für 40 Yuan geben. Als wir ablehnen, senkt sie den Preis. Wir wollen dennoch nicht kaufen. Es nützt aber nichts, sie bleibt uns dicht auf den Fersen. Durch eine erhöhte Schrittfrequenz können wir sie endlich abhängen. Eine andere Bettlerin versucht ebenso, uns etwas anzudrehen. Ich gebe ihr einen kleinen Betrag, kaufe allerdings nichts. Schnell hört sie auf, mich zu bedrängen.
Schreibe einen Kommentar