Auch wer nicht an einem Krieg unmittelbar beteiligt ist, kann sich auf verschiedene Weise mit ihm auseinandersetzen. Künstlerische oder musikalische Formen der Auseinandersetzung helfen, eine emotionale Beziehung zu dem Geschehen herzustellen. Das Gespräch mit den Opfern kann einen Schimmer von dem vermitteln, was tatsächlich passiert ist. Auch der normale Bürger kann sich auf vielfältige Weise einschalten. Selbst wenn dieses Einschalten nur darin besteht, aus dem Informationsfluss das gehaltvoll Erscheinende auszusondern und mitzuteilen. Man kann von Kriegen im allgemeinen oder von einem bestimmten Krieg die Entstehungsbedingungen und Folgen aufzeigen.
Wie entstehen Kriege? Den meisten Kriegen liegt das Streben nach mehr Land zugrunde. Max Weber meinte in seiner Abhandlung Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur – dabei bezog er sich auf die Kriege Roms: „Jeder Krieg ist Landnahme zur Kolonisation“. Es hat sich daran bis auf den heutigen Tag kaum etwas geändert. Länder und Organisationen beanspruchen – auch im 21. Jahrhundert – einen bestimmten Landstrich für sich und versuchen diesen mit Waffengewalt an sich zu reißen. Es sind aber nicht nur diese Länder und Organisationen an einem Krieg auf diesem Gebiet beteiligt, wie man fälschlicherweise glauben könnte. Beteiligt sind auch jene Länder, Organisationen und Interessengruppen, die Waffen liefern, Überflugrechte gewähren, Basen zur Verfügung stellen, aus Steuergeldern Militärhilfe und Wirtschaftshilfe leisten oder auch jene, die geeignete Begründungsmuster für Kriege ersinnen und verbreiten – also alle Länder und Organisationen, die den Aktionen ihrer kriegsführenden Klienten Rückendeckung geben.
Wenn die konkreten Handlungen, mit denen der Krieg beginnt, auch in den meisten Fällen das Ergebnis von Planungen sind, so tritt der Krieg nur begrenzt als Ergebnis eines rationalen, vorausschauenden Planungsprozesses ein. Man vergleiche etwa das Planen eines Krieges mit dem Planen einer politischen Kampagne. Im ersten Fall sind die Planungen geheim; aufgrund der hierarchischen Struktur des Militärs erfolgt nur sehr beschränkt eine offene Diskussion über verschiedene Alternativen, das kritische Abwägen der Gründe für oder gegen eine Aktion geschieht ohne öffentliches Korrektiv und bleibt eingeweihten Zirkeln vorbehalten. Dagegen mag die politische Kampagne auch ihre geheimen Seiten haben, doch der Vorbereitungs- und Umsetzungsprozess kann auf öffentlich legitimierte Verfahren zurückgreifen.
Zweitens sind Kriege in der Regel die aus dem Ruder geratene Verlängerung von bereits bestehenden, eskalierenden Konflikten, deren rationale Regulierung die Beteiligten versäumten. Die Kriege die in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens entstanden, veranschaulichen diese Behauptung.
Ein dritter Grund spricht ebenfalls gegen die These, der heutige Krieg sei das Ergebnis eines vorausschauenden, rationalen Planungsprozesses. An Zuspruch verliert, spätestens seit Beginn des Zweiten Weltkrieges, die Idee des Vorrangs der Verteidigung gegenüber dem Angriff und die Lehre, dass bei einem Krieg der politische Zweck (dem Gegner den eigenen Willen aufdrängen), die strategischen Ziele des Krieges (Das Wehrlosmachen des Feindes) und die Mittel des Krieges (Taktik, Gefecht) in einem sinnvollen Verhältnis stehen sollen. In Deutschland wirkte sich die Missachtung der Lehre Carl von Clausewitz‘ bereits vor dem Zweiten Weltkrieg aus in Differenzen des Generalstabschefs des Heeres der Wehrmacht, Ludwig Beck, mit Adolf Hitler; diese führten zur Entlassung Becks im Jahre 1938. Später verfolgte Hitler in Russland ein unbegrenztes Ziel mit begrenzten Mitteln und Stalin ein nur begrenztes Ziel (die Vertreibung der Deutschen) mit unbegrenzten Mitteln.
… Diese Einheit nun ist der Begriff, daß der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs sei, also durchaus nichts Selbständiges.
(…)Hiernach kann der Krieg niemals von dem politischen Verkehr getrennt werden, und wenn dies in der Betrachtung irgendwo geschieht, werden gewissermaßen die Fäden des Verhältnisses zerrissen, und es entsteht ein sinn- und zweckloses Ding.
(…)Daß die Politik an den Krieg Forderungen macht, die er nicht leisten kann, wäre gegen die Voraussetzung, daß sie das Instrument kenne, welches sie gebrauchen will, also gegen eine natürliche, ganz unerläßliche Voraussetzung …
Carl von Clausewitz, Vom Kriege, Achtes Buch – Sechstes Kapitel: B. Der Krieg ist ein Instrument der Politik
Für die These, dass die Clausewitzsche Lehre seit Beginn des Zweiten Weltkrieges kaum Beachtung findet, lassen sich verschiedene Beispiele anführen. Der amerikanische Einsatz in Vietnam, der unspezifische „Krieg gegen den Kommunismus“, ähnelt Ronald Reagans „Krieg gegen den Terror“ in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Südamerika und dem „Krieg gegen den Terror“ seines späteren Amtsnachfolgers George W. Bush. Denn hier stellte und stellt die Politik an den Krieg eine Forderung, die dieser nicht erfüllen kann.
Waren bei der Operation „Desert Storm“ im Jahre 1991 bestimmte politische Ziele erkennbar, schossen doch die eingesetzten Mittel (etwa Angriffe auf wehrlose Truppenteile, die sich bereits auf irakischem Gebiet auf dem Rückzug befanden, sechswöchiges Dauerbombardement im Irak, Einsatz von abgereichertem Uran) deutlich über die strategischen Ziele hinaus. Ähnliches gilt für den ersten Tschetschenienkrieg, in dessen Rahmen russische Truppen vom Dezember 1994 bis März 1995 die Stadt Grosny belagerten und durch Artilleriebeschuss große Teile dieser Stadt zertrümmerten, ohne damit ein strategisches Ziel zu erreichen, denn die tschetschenischen Kämpfer konnten die Stadt im April 1996 zurückerobern.
War bei der Operation „Desert Storm“ ein politischer Zweck erkennbar, so spricht vieles dafür, dass die USA vor der Operation „Iraqi Freedom“ zwar von der – auf der taktischen Ebene angesiedelten – Idee des „Blitzkrieges“ angetan waren, dass sie aber weder eine klare politische noch eine sinnvolle strategische Planung hatten und somit in einen zermürbenden, katastrophalen Krieg geschlittert sind.
Ähnliches gilt für die beiden jüngsten israelischen Militäroperationen, die sich kaum als Krieg bezeichnen lassen, denn sie entsprechen keinem Ringen zwischen Streitkräften von Staaten, sondern eher Massakern an Zivilisten: die israelische Attacke des Libanon im Jahre 2006 und die Militäroperation, die Israel im Gazastreifen zum Jahreswechsel 2008/2009 führte und offenbar noch begrenzt weiterführt. In letzterer überwogen die Mittel, während die israelischen Streitkräfte den als solchen identifizierten Gegner weder wehrlos machten noch ein klares politisches Ziel verfolgten. Ein solcher asymmetrischer Krieg mit enormen Verlusten von Zivilisten und erheblichen Schäden der sozialen und kulturellen Infrastruktur nur auf einer Seite lässt sich mit einiger Berechtigung als Terrorkrieg bezeichnen.
[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=E3-27vfLDBc&w=425&h=344]
Geralf Kaufmann, jüdisches britisches Parlamentsmitglied im Januar 2009
Eingestellt von moudsoliman
Weitere Gründe für Kriege liegen in dem Bestreben, ein Imperium zu errichten, aufrecht zu erhalten oder zu verteidigen. Dazu gilt es auf dem „großartigen Schachbrett“ (Zbigniew Brzezinski), politische und geostrategische Einflusssphären zu vergrößern oder zu sichern und den (als solchen etikettierten) ideologischen und ökonomischen Gegner klein zu halten. Die Gier nach Rohstoffen, die Einbildung, „legitimer Eigentümer“ über die Ressourcen anderer Länder oder Landstriche zu sein, spielt sicher als Grund für die Entstehung von Kriegen ebenso eine erhebliche Rolle.
Was Jupiter erlaubt ist, darf das Rindvieh noch lange nicht
Feindbilder und Kriege helfen, die innere Einheit eines Volkes zu sichern, was bereits der Soziologe Georg Simmel vor hundert Jahren darlegte. Heute verleiht die mächtigere Partei, der Angreifer und Invasor dem Leben der Menschen auf der Seite des „Feindes“ den Status „lebensunwert“, während er zudem die Absichten und Handlungsweisen seines Feindes als allgemeingefährlich brandmarkt. Gegen solche Wesen der Fremdgruppe, deren Lebenswert unter dem von Menschen liegt und irgendwo um den von Tieren oszilliert, kann man in dieser Logik auch keine Kriegsverbrechen verüben, allenfalls „schwere Fehler“ (in dem Sinne, dass damit das eigene Bild in der Weltöffentlichkeit Schaden erleidet). Vergleiche mit dem Hollywoodkino drängen sich auf: Eine kleine Gruppe von Helden kämpft mit Mut, Taktik, besonderer Härte und Gerissenheit gegen eine Horde anstürmender, tölpelhafter Barbaren. Die Helden, die nur wenige oder keine Opfer zu beklagen haben, kämpfen für die gerechte Sache und können das Leben der Barbaren in hundertfacher oder tausendfacher Relation auslöschen.
Obwohl gezielt und geplant durchgeführt, mit der Absicht eine Bevölkerung zu terrorisieren und zu entkultivieren, verkaufen uns die Kriegsführenden ihre Verbrechen an Zivilisten als „unvermeidbar“, als „Kollateralschäden“ oder als „im Einklang mit internationalem Recht“. Die mächtigen Kriegsverbrecher werden nicht zur Rechenschaft gezogen, niemand macht gerne die Büchse der Pandora auf. Eine Anklage gegen Thomas Lubanga oder gegen Slobodan Milošević ist nicht weniger gerechtfertigt als eine gegen Henry Kissinger, Dick Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Tony Blair oder Ehud Olmert.
Wer letztere verklagt, würde jedoch mit vielen Drohungen und Einschüchterungsversuchen konfrontiert. Ebenso würde eine solche Klage viel Schmutz, unlautere Manipulationen, Verwicklungen und auch tätliche Angriffe gegen die Kritiker der eben genannten Personen an die Oberfläche bringen (man denke etwa an den mysteriösen Tod des britischen UN-Inspektors David Kelly oder an gezielte Hinrichtungen von Journalisten im Irak), so dass diejenigen, die zu einer Anklage aufrufen könnten – von einigen Ausnahmen wie dem verstorbenen Literaturnobelpreisträger Harold Pinter abgesehen – , es lieber unterlassen.
Kriegsverbrechen gelten in bestimmten Kreisen allenfalls als Kavaliersdelikt. Maßgebliche Politiker lassen sich sogar lächelnd mit den Tätern ablichten, laden diese zu Konferenzen ein, plaudern mit ihnen im freundschaftlichen Ton, äußern Verständnis für ihren „berechtigten Wunsch nach Selbstverteidigung“ und verstärken durch ihren Zuspruch deren Selbstbild. Eine teilweise gleichgeschaltete, eingeschüchterte und infiltrierte Presse nimmt diese Stichworte beständig auf und spinnt daraus weitere Legenden.
Öl ins Getriebe
Schließlich ist ein weiterer Grund für Kriege auf interne Operationen des Militärsystems zurückzuführen. Ein großer Teil des Staatshaushaltes einiger Länder fließt in die Unterhaltung ihres Militärs. Die Interessen von Rüstungsfirmen sind eng verwoben mit den Entscheidungen, die den Haushalt und die Politik dieser Länder bestimmen. Gegenüber der Öffentlichkeit ist es aber nicht immer leicht, die immensen Ausgaben für die Rüstung zu rechtfertigen.
Die Streitkräfte wollen aber genährt und geachtet sein. Ihre Operationen könnte man so beschreiben: entweder ein Hindernis des Feindes mit Gewalt beseitigen oder dies unterlassen. Um diese Operationen langfristig durchhalten zu können, brauchen die Streitkräfte Ressourcen aus dem wirtschaftlichen System und Legitimation aus der Politik. Wenn aber auf Dauer nur die eine Seite der Operation in Erscheinung tritt, also der Gewalteinsatz unterbleibt, kommen die Streitkräfte in Legitimationsprobleme. Das kann man auch am Beispiel der Bundeswehr studieren. Abhilfe verschaffen da neue Feinde und neue Kriege, etwa der „Krieg gegen den Terror“. Die im Rahmen dieser neuen Kriege, euphemistisch als „Militäroperationen“, als „Luft-“ oder „Militärschläge“ bezeichneten kriegerischen Auseinandersetzungen, helfen somit die Ausgaben für den Kriegsapparat zu legitimieren.
Die finanziellen Interessen finden derzeit nicht die ihnen gebührende Beachtung in der Diskussion über die Entstehungsbedingungen von Kriegen. Der Ökonom Joseph Stieglitz, der sich kritisch mit dem Krieg im Irak auseinandersetzt, beziffert die Kriegskosten für die USA auf drei Billionen Dollar. In seiner Studie „The Three Trillion Dollar War“ geht er wie ein Buchhalter vor, der alle tatsächlichen und mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Kosten für die USA auflistet. Allerdings verschwinden hinter dieser Kostenarithmetik gelegentlich die Nutznießer, also diejenigen, die von dem Krieg profitierten. So findet die Firma Bechtel nur auf einer Seite Erwähnung. Doch zeigt Stiegliz recht detailliert, wie bestimmte Firmen – etwa die Sicherheitsfirma Blackwater – an diesem Krieg verdienten. Wie hoch sind aber die Kosten für den Rest der Welt und die für die Iraker? Die dürften wohl die genannten drei Billionen Dollar deutlich übersteigen. Immerhin, in einem Kapitel in seinem Buch geht Stieglitz der Frage nach, welche globalen Konsequenzen der Krieg im Irak habe.
Des einen Kosten – auch wenn sie dazu beitragen, das Finanzsystem ins Rutschen zu bringen – sind des anderen Erlöse. Rüstungsbetriebe, Baufirmen, Versorgungsbetriebe und private Sicherheitsfirmen – sie alle können an Kriegen gewinnen. Und je länger der Krieg dauert, desto größer lodert das Feuer im Ofen dieser Institutionen und verlangt nach immer und immer mehr Kohle.
Bedingungen der Regeneration
Ist der Krieg vorbei, stehen, sofern die Mittel und der Wille vorhanden sind, Rekonstruktionsarbeiten auf dem Programm. Auch ein Neuarrangement der Rechts- und Besitzverhältnisse erfolgt in der Regel am Ende des Krieges. Die seelischen und körperlichen Wunden können halbwegs verheilen, sofern bestimmte Bedingungen vorliegen: Eine Mindestzahl an funktionierenden Institutionen der Medizin und Fürsorge, die Sozialstruktur der Gesellschaft muss noch intakt sein, d.h. stabile Muster des Zusammenlebens sind erforderlich, dazu gehören etwa ein bestimmtes soziales Netz, Bildungseinrichtungen und Familienbeziehungen. Zudem braucht eine Gesellschaft für ihre Regeneration einen ausreichend langen Waffenstillstand. Ist das Ergebnis des Krieges nur ein kurzfristiger, wackeliger und ungerechter Frieden, kann ein geschundenes und geschändetes Volk sich nicht erholen. Er gibt nur weiteren Anlass für Feindseligkeiten – und die Spirale der Gewalt dreht sich schneller. Der Sieger zwingt in der Regel dem Besiegten seinen Willen auf. Die Wirklichkeit, genauer gesagt ihre mediale Repräsentation, verzerrt sich in Richtung der Interessen der stärkeren Partei.
Schreibe einen Kommentar