Gewalt im Gazastreifen – Nach dem Dauerbombardement nun die Bodenoffensive

Ist es Zorn? Zorn gebührt dem Starken, demjenigen, der sich durchsetzen kann, der strafen kann. Zorn entspringt oft einem Sinn für Gerechtigkeit. So zürnte Jawhe in der Bibel als sich das Herz des Pharao erhärtete oder als sich sein Volk gegen ihn und seine Gebote wandte. Der Schwache kann nicht zornig sein, der Ohnmächtige schon gar nicht. Der Schwache ist eher wütend oder verzweifelt. Die Raketen, die aus Gaza fliegen, sind ein Zeichen der Wut und Ohnmacht. Die Geschosse und Granaten, die in den Gazastreifen fliegen, sind ein Zeichen der Selbstgerechtigkeit und der Feigheit. Nun hoffen die israelischen Streitkräfte durch eine blutige Bodenoffensive schnell einen militärischen Sieg für sich zu verbuchen.

Israels Regierung stand bis zum 21. September 2008 der unter Korruptionsvorwürfen strauchelnde Ehud Olmert vor. Einigen gilt er als zu kompromissbereit, offenbar deshalb stürzt er sich in außer Kontrolle geratende Militäraktionen, die ihm das Image eines harten, zupackenden Vollstreckers geben sollen. Damit trat Olmert, begleitet von seiner Außeministerin Tzipi Livni und dem „Verteidigungsminister“ Ehud Barak in die Fußstapfen des Amtsvorgängers Ariel Scharon, eines Kriegsverbrechers. Die israelische Regierung exerziert das, was ihr großer amerikanischer Bruder vorlebt: einen scheinbaren Präventivkrieg mit militärischer Hightech gegen einen bereits am Boden liegenden Gegner, der sich militärisch gegen Angriffe aus der Luft nicht wehren kann, sondern nur mit zweitklassigen Geschossen mit sehr geringer Trefferquote Menschenleben auslöscht. Damit verbreitet dieser Gegner Angst und erzielt bei einigen Bevölkerungsgruppen Achtungserfolge. Die Raketenangriffe haben m.E. aber auch eine andere symbolische Dimension, von der in den westlichen Medien so gut wie nicht die Rede ist: Sie demonstrieren das Vermögen, der israelischen Miliitärmaschinerie trotzen zu können und erfüllen daher vermutlich die palästinensische Bevölkerung mit der subjektiven Genugtuung, dass sie einen vielfach überlegenen Gegner hinhalten können.

Wahlkampfkalküle und das Vereiteln eines palästinensischen Staates

Aber was ist das Ziel der israelischen Angriffe? Vordergründig geht es darum, das Aufsteigen der Raketen von Hamas zu stoppen, die trotz ununterbrochenen Einsatzes der israelischen Streitkräfte nur noch weiter in Israels Süden fliegen. Nach einem Leitartikel im International Herald Tribune vom 31. Januar wollen Ehud Barack, Tzipi Livni und Ehud Olmert den Krieg dazu nutzen zu zeigen, wer im bevorstehenden Wahlkampf der größte Falke ist. Es gilt das Ansehen der israelischen Streitkräfte, das der Libanonkrieg im Jahre 2006 ramponierte, wieder herzustellen. Wahrscheinlich geht es den israelischen Politikern darum, Hamas als machtpolitischen Faktor auszulöschen, eine am 25. Januar 2006 mit absoluter Mehrheit auf demokratische Weise von der palästinensischen Bevölkerung in den palästinensischen Legislativrat gewählte Organisation.

Plausibel erscheint mir auch Ramsey Clarks These, dass die Aktion darauf abzielt, die unterschiedlichen palästinensischen Fraktionen gegeneinander auszuspielen und die Möglichkeit eines einheitlichen palästinensischen Staates zu verhindern. „Falls es Israel gelingen sollte, Hamas unter großen palästinensischen Opfern zu besiegen“, schreibt Marwan Bishara im International Herald Tribune am 31. Januar, „wird Abbas als ein israelischer Komplize betrachtet werden. Jeder Versuch seiner Einheiten, Gaza auf den Fußstapfen der israelischen Armee zu betreten, wird ein Blutbad anrichten, die Palästinenser weiter radikalisieren und das Ende seiner Autorität bedeuten“.

Die Lüge vom chirurgischen Anti-Terror Krieg

Es fällt schwer, ruhig zu bleiben angesichts dieser kriminellen israelischen Militäraktion, der zynischen Aussagen der Politiker und ihrer „Freunde“ und der scheinbaren „Objektivität“ der einschlägigen Medien, die in Wirklichkeit häufig die Lügen der Politiker verbreiten oder wichtige Geschehnisse unter den Tisch kehren. Da gibt Ehud Olmert die Parole aus, Israel habe nichts gegen die Bevölkerung von Gaza; die israelische Armee wolle nur Hamas bekämpfen. „Wir wollen nicht unsere Macht demonstrieren, aber wir werden sie einsetzen, wenn es nötig ist“. „Unsere Schläge sind so chirurgisch wie möglich“. Die israelische Außenministerin meint am vergangenen Donnerstag in Paris: „Es gibt keine humanitäre Krise im Gaza-Streifen, und deshalb ist eine Waffenpause für Hilfslieferungen nicht notwendig“. Dasselbe verkündete gestern ein Sprecher vom israelischen Verteidigungsministerium in BBC-World.

Benny Morris, Professor an der Ben Gurion Universität, spricht im International Herald Tribune vom 31. Dezember von „Israels hochgradig effizienten Luftattacken auf Hamas“. Bisher fielen nach UN-Angaben den israelischen Attacken etwa 100 Zivilisten zum Opfer, ein Viertel der etwa 400 ermordeten Personen im Gaza-Streifen. Der Sachschaden ist erheblich: Israelische Raketen legten das Innenministerium in Schutt und Asche, die Rundfunkanstalt Al Aqsa wurde zerstört, israelische Kampfjets attackierten Moscheen, Geldwechselstuben und Krankenfahrzeuge, außerdem fielen Bomben auf Universitäts-Gebäude. Nun hat eine großangelegte Bodenoffensive begonnen.

Proteste in Seoul

Protestierende in Seoul vor der israelischen Botschaft

Foto: Korea Times

Keine Machtdemonstration, Israel kämpft nur gegen Hamas, hat nichts gegen die Zivilbevölkerung und führt „hochgradig effiziente“ Militärschläge durch? Wer soll das glauben? Morris bemüht zudem wieder die Story vom eingekreisten Israel, das von inneren Feinden (1, 3 Millionen arabische Bewohner) und äußeren Feinden umgeben sei, wozu er den alten Anti-Iran Topos verwendet („Sie treiben wie wahnsinnig ihr Atomprojekt voran, von dem die meisten Geheimdienste glauben, es sei darauf ausgerichtet, Atomwaffen zu bauen“.)

Hans Christian Rößler von der FAZ malte am 30. Dezember das Bild einer verteidigungsbereiten, gut gerüsteten, zum Teil im Iran ausgebildeten HAMAS-Truppe. Erinnerungen an den Beginn des Irak Krieges vor mehr als fünf Jahren werden wach. Damals geisterten auch die Spekulationen in den Medien, von Politikern und Militärs bewusst geschürt, wie gefährlich die Armeen der Iraker seien, es sei mit allem zu rechnen. „Im Angesicht der evidenten Gefahr können wir nicht auf den letzten Beweis in Form eines Atompilzes warten“, sagte Präsident Bush am 7. Oktober 2002 in Cincinatti. Offenbar versuchte wieder die Presse, die Öffentlichkeit auf den Boden-Krieg vorzubereiten: Es gelte fanatische, allgemeingefährliche, unberechenbare und gut ausgebildete Terroristen mit allen Mitteln zu bekämpfen.

„Es gibt keine humanitäre Krise im Gaza-Streifen“

Aber wie sieht es in Gaza wirklich aus? Tatsächlich gibt es schon seit Monaten eine humanitäre Krise im Gaza-Streifen. Die Bevölkerung in dem etwa 10 x 40 km großen Streifen ist ausgelaugt von der israelischen Blockade, die seit Januar 2008 die Einfuhr wichtiger Lebensmittel unterbindet. Die humanitäre Krise gibt auch die liberal-konservative FAZ am 1. Januar zu: Gaza sei aufgrund der israelischen Blockade „ein Armenhaus“. „Seit 1999 ist nach Berechnungen der Weltbank das Einkommen in der Westbank und Gaza je Einwohner real um 30 Prozent gesunken. In Gaza nahm im gleichen Zeitraum die Zahl jener, die unter der Armutsgrenze leben, von 52 Prozent auf 79 Prozent zu.“  Tatsächlich gibt es dort kaum Elektrizität und Treibstoff, Nahrungsmittel sind Mangelware. Die medizinische Versorgung ist vielerorts zusammengebrochen. Ersatzteile für Müllbeseitigungs- oder Wasseraufbereitungsanlagen fehlen, Seuchengefahr ist gegeben  (Siehe dazu auch die Protestnote des Stadtrates der Partnerstadt Barcelona vom 18. Juni 2008 oder die Berichte von der AG-Friedensforschung an der Uni Kassel).  Ist eine so drangsalierte Bevölkerung wirklich ernsthaft zur Gegenwehr fähig gegen eine gutgenährte und hochgerüstete High-Tech Armee, die nun mit geballter Kraft und Rückendeckung des Bush-Regimes in einen schmalen Landstreifen eingedrungen ist, nachdem sie aus der Luft, feige und selbstgefällig Todesurteile vollstreckte?

In dem Entwurf zu einer UN-Resolution zur Verurteilung des israelischen Angriffes auf den Gaza-Streifen, die kürzlich von den USA abgelehnt wurde, war nicht die Rede von palästinensischen Raketen. Der koreanische UN-Generalsekretär Ban Ki-Mun und die einschlägigen Medien unterstreichen die Bedeutung der von Gaza aufsteigenden und in den israelischen Städten einschlagenden Raketen umso mehr. Ban verurteilt  „die wahllosen Raketen-Attacken der militanten Hamas und die Unverhältnismäßigkeit der fortwährenden israelischen Militäroperation“ (IHT 1.1.09). Viele der einschlägigen Medien behaupten, oder legen es zumindest nahe, dass Hamas den Waffenstillstand gebrochen habe, dass die Raketenangriffe der eigentliche Grund der israelischen Attacken seien, beispielsweise die ehemals liberale Wochenzeitung „Die Zeit“ oder die Welt in ihrer Ausgabe am Samstag, 27. Dezember. (“ ‚Es reicht! Die Situation wird sich ändern‘. Nach Raketenbeschuss warnt Israels Regierung die Hamas. Vorbereitung für Militärschlag im Gazastreifen“.)

Man beachte, in welcher Reihenfolge der UN-Generalsekretär die Gewaltaktionen im Gaza-Streifen verurteilt. Seine Worte suggerieren auch einen Ursache-Wirkungszusammenhang. Setzt er und diejenigen, die ähnlich sprechen, nicht zwei quantitativ und waffentechnisch völlig verschiedene Vorgänge in eins? Auf der einen Seite fliegen wahllos hunderte von Raketen, teilweise selbstgebaut, ungenau und mit dem sofortigen Risiko, dass diejenigen, die sie abfeuern (wollen) aus der Luft hingerichtet werden. Auf der anderen Seite agiert eine Armee, die, dank milliardenschwerer amerikanischer Militärhilfe zu den schlagkräftigsten im Nahen Osten zählt. Nach Militärausgaben steht sie laut Wikipedia an 20. Stelle weltweit, stellt man ihre Schlagkraft in Rechnung, rangieren die mit Nuklearwaffen ausgerüsteten IDF sicher weit höher in dieser Tabelle.

Diese Armee agiert nicht mit „Zurückhaltung“ im Gaza-Streifen, sondern sie vollstreckt dort Massenhinrichtungen. Beim Beschuss des Gaza-Streifens, informiert durch Satellitenaufnahmen, fliegen hochmoderne Kampfjets, lasergelenkte Raketen, unbemannte Drohnen, und nun rollen die Panzer. Kämpft hier nicht David gegen Goliath, eine Kampfmaschine, ein Rambo gegen einen jugendlichen Steinewerfer? David und Goliath in einem Atemzug in dieser Reihnefolge zu nennen, sie auf dieselbe Stufe zu stellen, verzerrt die Realität. Die Standardetikettierung der palästinensischen Raketenangriffe als Terror und die Bezeichnung der eigenen Aggression als „Verteidigungsmaßnahmen“ ist schlicht zynisch.

Verschwiegen bleibt, dass israelische Politiker und Militärs die Aktion „gegossenes Blei“ schon seit über einem halben Jahr planten, also noch bevor diese mit Hamas in die Verhandlungen über einen Waffenstillstand eintraten. Dies schreibt Haaretz Autor Barak Ravid für Global Research. Ebeno unerwähnt bleibt die israelische Attacke auf Rafah und Hanunis, die vor zwei Monaten erfolgte. Etwa vor einem Monat wuchsen dann die Spannungen vor Ablauf des Waffenstillstandes, als israelische Truppen in den Gaza Streifen eindrangen, dort einen Tunnel zerstörten und dabei Hamas Kämpfer töteten. Obzwar kein Thema bei den Mainstream-Medien, greifen dies dennoch verschiedene westliche Zeitungen auf (Siehe dazu auch das Transkript von CNN vom 31.12.08 oder den Artikel im Guardian vom 5. November) und ebenso die israelische Zeitung Haaretz. Was passierte nach dieser israelischen Hinrichtung der Hamas Kämpfer? Es stiegen Raketen aus dem Gaza-Streifen auf.

Mit Kanonen auf Spatzen – und mit Lenkwaffen auf Ambulanzfahrzeuge

Nun bezeichnen einige westliche Staaten, viele Politiker und Journalisten Hamas als eine „Terrororganisation“. Hamas, ursprünglich von Israel als Gegengewicht zur PLO im Gazastreifen mit aufgebaut 1), ist eine Partei, sowie eine politische und militärische Organisation. Sie besteht aus verschiedenen Unterorganisationen, einige davon sind für Infrastrukturprojekte zuständig (wozu der Bau von Krankenhäusern, Schulen und Bibliotheken gehört), andere Untergruppierungen fördern soziale Projekte. Der bewaffnete Arm der Hamas sieht im gewaltsamen Kampf gegen Israel und im Einsatz von Selbstmordattentätern ein legitimes Mittel des Widerstands und der Vergeltung. Das Ziel der Hamas ist letztlich die Errichtung eines islamischen Staates auf dem Gebiet des ehemaligen Palästinas. 

Hamas benutze  Gaza „als eine Abschussrampe für seine Raketen“, so etwa Dan Gillerman, Israels UN-Vertreter im BBC-Interview, und andere israelische Politiker. Dass Raketen von Gaza nach Israel fliegen und dort die Bevölkerung terrorisieren ist richtig. Doch der von der IDF zur Zeit in Gaza exerzierte Staatsterrorismus ist ungleich schwerwiegender. Was soll Hamas tun, angesichts der israelischen Hinrichtungswellen? Ja, es kann seine Raketenangriffe einstellen, ist jedoch auch dann nicht vor israelischen Angriffen sicher, wie die Vergangenheit zeigte.

Demokratie ja, aber nur mit Leuten, die uns passen

Einerseits billigt man den Palästinensern semistaatliche Institutionen zu, wissend, dass Staaten ein Gewaltmonopol in ihren Gebieten ausüben und ein in der UN-Charta verbrieftes Selbstverteidigungsrecht haben, andererseits dürfen die Palästinenser jedoch nicht von diesen Rechten Gebrauch machen, dürfen nicht die Führer wählen, die sie wählen wollen. „Ihr verdient Demokratie und Rechtsstaatlichkeit … Ein Ende der Besatzung und ein friedlicher demokratischer palästinensischer Staat mögen weit entfernt erscheinen. Aber die Vereinigten Staaten und ihre Partner auf der ganzen Welt sind bereit zu helfen“. Diese Worte stammen von George W. Bush vom 24. Juni 2002. Sie sind hohl und abgeschmackt, zeigte doch seine Regierung nur Miss- oder Verachtung für demokratische und autonome Prozesse in muslimischen oder muslimisch geprägten Nationen.

Israel besetzt seit dem Sechstagekrieg von 1967 den Gazastreifen. Sein teilweiser Rückzug aus diesem Gebiet ab 1994 und schließlich der Auszug der israelischen Siedler ab 2005, in der Presse manchmal als großzügiges Entgegenkommen dargestellt, war nach zahlreichen UN Resolutionen – etwa der Resolution 242 – und dem Oslo-Abkommen längst überfällig. Dennoch kontrollierte Israel weiterhin die Luft, die Zufahrtswege vom Meer, das Bevölkerungsregister, Im- und Exporte, Steuerzahlungen der Bevölkerung und den Besuch von Ausländern. Von einer autonomen Selbstverwaltung in Gaza kann also nicht die Rede sein.

1) Elmar Krautkrämer „Krieg ohne Ende – Israel und die Palästinenser“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, S. 59


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