Das Leid der Opfer und das der Täter

„Pilger unearths, with steely attention, the facts, the filthy truth, and tells it as it is.“ (Harold Pinter)


Er gehört zu einer seltenen Sorte von Journalisten in der westlichen Welt. Er schwimmt nicht mit im breiten Strom der Agenturmeldungen, legt sich mit den machthabenden Politikern an, prangert ihre unmenschliche Politik an, deckt Desinformationskampagnen auf, gibt Entrechteten eine Stimme und zeigt Wege der Versöhnung auf. Er meidet den Ton des moralisch Überlegenen, schlüpft aber in die Rolle des informierten Beobachters, der Menschen und Organisationen mit ihren eigenen Maßstäben misst.

Vor mehr als zwanzig Jahren drehte er den Dokumentarfilm Palestine is still the issue („Es geht immer noch um Palästina“, so könnte die deutsche Übersetzung lauten.) Im Jahre 2002 kehrt er in die Palästinensergebiete zurück und fragt, warum die Palästinenser seit mehreren Jahrzehnten in elenden Verhältnissen leben müssen, obwohl ihnen die UN bereits vor mehr als 40 Jahren das Recht auf Rückkehr zusprach.

Der Film liegt in englischer Sprache vor. Pilger benutzt keine komplizierte akademische Terminologie, sondern die Worte eines aufmerksamen Reporters, der mit den Menschen vor Ort spricht, weil er versucht, die Rahmenbedingungen des Konfliktes zu verstehen und weil er die Eliten mit den Fakten konfrontieren will. Pilger spricht u.a. mit dem palästinensischen Demokratieaktivisten Mustafa Barghouthi, dem israelischen Politikwissenschaftler Ilan Pappe, mit Palästinensern, deren Tochter zur Selbstmordattentäterin wurde (dreizehnte Minute), dem Israeli Rami Elhanan, dessen vierzehnjährige Tochter Smadar einem Selbstmordattentäter zum Opfer fiel (sechzehnte Minute) oder mit Dori Gold, einem Senior-Berater des israelischen Ministerpräsidenten (fünfundreißigste Minute).1)

John Pilger: Palestine is still the issue 2002

Der Film wurde vor mehr als sechs Jahren gedreht. Er zeigt die Situation nach dem Angriff der israelischen Streitkräfte auf Ramallah im Rahmen der Operation „Abwehr Schild“ (Defense Shield) unter Premierminister Ariel Scharon. Mindestens 500 Palästinenser starben damals, tausende wurden verletzt und verhaftet. Analog zu der heutigen Aktion „Gegossenes Blei“ zerstörte die israelische Armee palästinensische Verwaltungsgebäude, sowie das Hauptquartier des Chefs der „Palestinian National Authority“, Jassir Arafats.

Schockierend finde ich, wie wenig sich die Verachtung für menschliches Leben und menschliche Kultur geändert hat. Der Film ist verhältnismäßig „sanitised“, also von anstößigen Stellen gesäubert, wenn man ihn mit den Ausführungen in Pilgers Buch vergleicht. Darin sind Schilderungen über Vandalisus und darüber, wie die israelische Armee wahllos Zivilisten, auch alte Menschen und Kinder, abschlachtet, schaurig. „Weit davon entfernt die Infrastruktur des Terrors zu zerstören, lag das Ziel klar darin, die Infrastruktur einer organisierten Gesellschaft zu zerstören“, schreibt Pilger auf Seite 82. Moshe Dayan, ehemaliger israelischer Verteidigungs- und Außenminister, meinte einmal während einer Diskussion unter Regierungsmitgliedern, Israel solle den Flüchtlingen in ihren Gebieten sagen: „Wir haben keine Lösung, ihr sollt weiter leben wie die Hunde, und wer will, kann ja gehen. Wir werden sehen, wohin dieser Prozess führt.“2)

Pilgers Film spricht viel in Bildern. Etwa ab der dritten Minute zeigt er die Szenerie, so wie sie sich nach dem Eindringen der israelischen Truppen und ihren Verwüstungen in Ramallah zeigte. Am 3. April 2002 kam es zu wahllosen Zerstörungen im Flüchtlingscamp Jennin; nach UN-Angaben starben 52 Palästinenser, davon die Hälfte unbewaffnet, hunderte wurden verletzt. Die israelische Armee ging mit fünfzig Panzern, Kampfhubschraubern und F16 Kampfjets gegen das Camp vor. Gepanzerte Bulldozer zerstörten tausende Wohnungen. Dabei gab es auch Zivilisten, die lebendig im Schutt ihrer Häuser begraben wurden. Trotz der überlegenen Waffentechnik mussten auch 23 israelische Soldaten ihr Leben lassen.3)

Wer sich über die Palästinafrage informieren will, erhält – sofern die Englischkenntnisse ausreichen – in den 52 Minuten des Films wertvolle Informationen, und Hintergrundanalysen, die in der konventionellen Berichterstattung meistens fehlen. Pilger spürt auch dem Leid der Opfer von Gewaltverbrechen nach, aber auch von denjenigen, die zu Gewaltverbrechern wurden.  Durch die Anerkennung eigenen und fremden Leides, sowie die Anerkennung des Bedürfnisses aller Menschen in der Region nach Frieden und einem würdigen Leben, gelingt ein Perspektivenwechsel, ein Konfliktlösungsansatz jenseits der festgefahrenen, fruchtlosen und sich immer wieder perpetuierenden Konfliktregulierungsmechanismen des Establishments.

Literaturverweise
1) Siehe dazu auch John Pilgers Buch „Freedom Next Time – Resisiting the Empire“, New York 2007, S. 71
2) Noam Chomsky, Hegemony or  Survival, New York 2004, S. 184
3) Die Zahlen der Opfer sind umstritten, nach palästinensischen Angaben kamen auch hier fünfhundert Flüchtlinge ums Leben. Ich habe die Opferzahlen entnommen aus dem Buch von Elmar Krautkrämer „Krieg ohne Ende – Israel und die Palästinenser“, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003, S. 141


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Kommentare

3 Antworten zu „Das Leid der Opfer und das der Täter“

  1. Avatar von warum07

    vielen Dank für diesen Beitrag 🙂

    Israel orientiert sich im Verhalten zu den Palästinensern an dem Umgang der USA mit Ihren Natives, die als echtes Problem für den Staat als gelöst zu sehen ist

    liebe Grüsse
    Karen

    1. Avatar von Perspektivator

      Die Gemeinsamkeiten fallen auf, etwa Vertreibung und Raub des Landes oder gewaltsames Eindringen in die noch verbliebenen Landstriche.

      Als Jugendlicher hatte ich einmal ein Buch von Dee Brown (Begrabt mein Herz an der Biegung des Flusses, Original: Bury My Heart at Wounded Knee) gelesen. Die dort geschilderten Grausamkeiten an der indianischen Urbevölkerung sind kaum zu ertragen.

      Der Vergleich mit Südafrika zur Zeit der Apartheit erklärt sicher auch einiges.

      1. Avatar von warum07

        ein mich noch mehr erschütterndes aber letztlich Hoffnung gebendes Buch: http://www.amazon.de/Last-Standing-Woman-Eine-indianische/dp/3894051132

        :yes: mit Apartheit kann es auch benannt werden

        danke,

        liebe Grüsse
        Karen

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