Am Dienstag, 3. Juni, gaben die Trondheimer Solisten und Anne-Sophie Mutter ein Konzert in der Seouler Kunsthalle. Meine Frau und ich besuchten dieses Konzert und ich bin froh, dort gewesen zu sein. Bisher habe ich Anne-Sophie Mutter kaum gehört, habe mich auch wenig mit ihren Aufnahmen auseinander gesetzt. Dennoch möchte ich im Folgenden meine Eindrücke wieder geben.
Was stand auf dem Programm? Zunächst spielten die Trondheimer Solisten alleine Divertimento Sz 113 von Béla Bártok, ein modernes Orchesterwerk, reich an Dynamik, Tempowechseln und ungewöhnlichen Klangfarben. Bei tonal komponierten Musikstücken läuft das Geschehen, oft über Umwege, auf die Grundtonart hinaus, etwa über eine Kadenz (Subdominante. Dominante, Tonika der jeweiligen Tonart). Doch von Bártoks Musik hatte ich den Eindruck, dass sie, einem Ball gleich, von innen nach außen gestülpt, rückwärts lief, auf einen Zustand des Ungleichgewichtes, der nach einem Gleichgewicht verlangt, doch in der Schwebe verharrt. Das Stück erzeugte also viel Unruhe und einige Zuschauer schienen sich nach bekannteren Harmonien zu sehnen. Ein älterer Koreaner in unserer Nähe verließ einfach den Konzertsaal. So viele ungewohnte Klänge waren vermutlich zu viel für ihn. Auch meine Begleiterin machte eine unzufriedene Miene.
Doch im dritten Satz des Divertimento Sz 113 erscheinen Klangfiguren, die so gar nicht in ein solch modernes Stück passen: Fugen. Beabsichtigt war offenbar, mit Bartoks Stück Spannung zu erzeugen und, durch den dritten Satz zu Bach überzuleiten.
Nun taucht Anne Sophie Mutter auf, setzt zum Spiel an, vertraute Harmonien erklingen, und die Welt ist wohl für viele der Anwesenden wieder in Ordnung: mit Bachs zweitem Violinkonzert, das in anderer Fassung ja auch als Cembalokonzert (BWV 1054) erschienen ist.
Mir fällt ein, dass ich den Ton meines neuen Mobiltelefons nicht abgestellt habe. Was wäre, wenn dieses nun laut erklänge? Es wäre wohl eine Katastrophe: eine computeranimierte simple Melodie würde, unendlich lästig werdend, die Atmosphäre ruinieren. Oder würde man den Klang dieses potentiellen Störenfriedes ein paar Sitzreihen weiter nicht vernehmen können?
Als eher unangebracht empfanden die Musiker an diesem Abend auch den „Zwischen- applaus“: Das Publikum applaudierte nach fast jedem Satz. (Die südkoreanische Geigerin Chung Kyung-wha winkt auch ab, als das Publikum nach dem 2. Satz des E-Dur Violinkonzertes applaudieren möchte, siehe das Video unten.) Vielleicht ist dies eine koreanische Marotte? Ich habe dies auch in anderen Konzerten in Korea erlebt. Üblich ist es dagegen, am Ende eines Stückes zu applaudieren. Nach der Pause kam daher eine Durchsage, man möchte doch nur am Ende eines Stückes Beifall klatschen. Nach den Strapazen des ersten Teils kommt also die Pause, in der man Kaffee und Kekse reicht. Für die Anwesenden wirkt die wohl eher abkühlend und mir gelingt es, den Störenfried abzustellen.
Ruhe vor dem Sturm
Mutter spielt nach dem Wiedereinlass die Vier Jahreszeiten von Vivaldi. Selten habe ich diese Komposition gehört. Vivaldi ist mir vornehmlich von einigen Cellokonzerten bekannt. Vor diesem Konzert höre ich dieses Mal nicht das wichtigste Stück zur Eingewöhnung, ich wollte mich überraschen lassen. Mir fällt die Natürlichkeit der Vier Jahreszeiten auf. Im Gegensatz zu Bártoks absoluter Musik, die wir zu hören bekommen, hat in den „Vier Jahreszeiten“ jeder Effekt eine klangliche oder bildliche Entsprechung in der Natur. Es fällt die reiche Dynamik auf, die unterschiedlichen Tempi, die häufigen Stimmungsumschwünge, die Klangmalerei. Vivaldi schrieb offensichtlich schon lange vor Beethovens Pastorale und der Symphonie fantastique des französischen Komponisten Hector Berlioz Programm-Musik: Man hört die Vögel zwitschern, sieht (vor dem geistigen Auge) die Bauern tanzen, leidet unter der Schwüle des Sommers (der ja in Korea besonders schwül ist), spürt das Gewitter aufkommen, hört den Regen niederprasseln, kann sich vorstellen, wie ein Betrunkener herumtorkelt und erschauert vor der klirrenden Kälte des Winters. Ich kann wenig dazu sagen, wie die Trondheimer Solisten und Anne Sophie Mutter Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ aufführen, fehlt mir doch der Vergleich. Allerdings meine ich, dass sie das Stück sehr konzentriert und leidenschaftlich zugleich zur Aufführung bringen. Schließlich ging der offizielle Teil des Konzertes mit dem Allegro aus dem Winter-Teil zu Ende. Applaus brandet auf, mehrmals erscheint die Solistin auf der Bühne.
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Anne-Sophie Mutter spielt Ausschnitte aus den vier Jahreszeiten , Video: BlueXav
Dann geben die Solisten Zugaben: Ausschnitte aus den vier Jahreszeiten (Aus Sommer das Presto und, soweit mir noch in Erinnerung ist, aus Frühling das Largo) und spielen am Ende als weitere Zugabe die Air aus der Orchestersuite in G-Dur von Johann Sebastian Bach (BWV 1068). Dieses Stück scheint nur geringe technische Anforderungen an die Instrumentalisten zu stellen. Doch gerade dies wird für viele Musiker zum Stolperstein: Wer hier sein technisches Können unter Beweis stellen will, etwa durch unentwegtes Vibrato, zerstört die bezwingende Schlichtheit dieses Werkes, wer es romantisch interpretiert, verfehlt seinen kontemplativen Charakter.
Sara Chang spielt „Air“, Video: mahakrisna
Daher stolpert Sarah Chang, eine junge US-amerikanische Violinistin, meiner Meinung nach, bei dieser Aufnahme über dieses Stück.
Richard Sennet über musikalischen Respekt
Der Soziologe und Musiker Richard Sennet schreibt in seinem Buch Über Respekt …, dass große Musiker, wenn sie zusammen musizieren, ihr Können nicht in den Vordergrund drängten, dass sie sich aufeinander einstellten, sich gegenseitig repektierten. Er veranschaulicht diese Behauptung am Zusammenspiel des Baritons Dietrich Fischer Dieskau und des Pianisten Gerald Moore bei der Aufführung von Schuberts Erlkönig.
„Moore muss ein Stakkato aus kurzen Akkorden spielen, das an Maschinengewehrfeuer erinnert. Seine Hände sind dieser Aufgabe zweifellos gewachsen, aber er muss sehr auf die Lautstärke achten. Das Piano soll einen unruhigen Hintergrund für die vom Sänger vorgetragene Geschichte eines verängstigten Kindes schaffen, das der Vater zu beruhigen versucht und das dann plötzlich auf geheimnisvolle Weise stirbt. Moore darf nicht zu laut spielen, aber Fischer-Dieskau muss ihm, wenn das Kind spricht, auch helfen, indem er seine Stimme zurücknimmt, damit die verängstigende Wirkung des Maschinengewehrstakkators zur Geltung kommt. Wie schon so oft beim Vortrag des Erlkönigs zeigt sich Fischer-Dieskau auch diesmal der Aufgabe gewachsen. Während Sänger, die ihren Part gerne in den Vordergrund stellen, die Möglichkeiten des Brustkorbes nutzen und die ängstlichen Schreie des Kindes sehr laut herausstoßen, produziert Fischer-Dieskau Kopftöne und hebt die Stimme bis hoch in die Kehle. Um die Wirkung des Pianostakkatos noch zu verstärken, nimmt sich der Sänger im mittleren Teil eine kleine Freiheit beim Text heraus. Er spricht mehr, als dass er sänge, und besonders abgehackt spricht er in einem Augenblick, als Moore sehr reiche Akkorde spielt, deren Klangwirkung leicht verloren gehen könnte. Der Erlkönig kommt an sein plötzliches, bestürzendes Ende, und das Publikum tobt. Der Sänger hat die Bedürfnisse des Pianisten respektiert. Man könnte sagen, das Zusammenspiel gelingt dank der Persönlichkeit des Sängers, doch Fischer-Dieskau selbst sagt das nicht. In seinen Schriften spielt er die Bedeutung seiner persönlichen Gefühle herunter, teils aus Bescheidenheit, teils weil ihm der bei Sängern verbreitete Personenkult nicht liegt, vor allem aber weil für ihn beim Vortrag eines Stücks die Anforderungen der Musik im Vorgerdrund stehen
Richard Sennet: Respekt im Zeitalter der sozialen Ungleichheit, Berlin 2002, S. 68f.
Man könnte vielleicht sagen, Fischer-Dieskau hat eine Klangidee des Erlkönigs und es geht ihm darum, diese Klangidee zu verwirklichen. Danach will er nicht in erster Linie seine Rolle korrekt spielen, also etwa den richtigen Ton treffen oder den Einsatz nicht verpassen, sondern er strebt nach der Verwirklichung des Zusammenspieles, das der Klangidee am nächsten kommt. Mit anderen Worten, er ordnet sich der Idee unter.
Auch Anne Sophie Mutter, so war mein Eindruck, ordnete den Klang ihres Instrumentes, dem anvisierten Zusammenklang aller Instrumente unter; ihr Spiel integrierte sie scheinbar mühe- und nahtlos in das Spiel des Orchesters. Auf den früheren Aufnahmen der Vier Jahreszeiten, die ich von ihr gehört habe, als sie mit Herbert von Karajan zusammen spielt, hebt sie sich dagegen eher vom übrigen Orchester ab. Nun scheint sie mit dem Begleitorchester zu verschmelzen. Ihre Einsätze erfolgen präzise, unauffällig, ohne große Gebärden und Theatralik. Dennoch übernimmt die Geige (nicht die Musikerin) an den Stellen, bei denen es Vivaldi so vorgesehen hat, klar die Führung.
Im zweiten Satz des E-Dur Konzertes von Bach gibt Anne-Sophie Mutter sanft den Cellisten mit ein paar ruhigen Gesten das Tempo vor, um anschließend ganz sachte und unscheinbar sich mit ihrer Violine zum Spiel der anderen zu gesellen.
Chung Kyung-wha dirigiert und spielt den 2. Satz des E-Dur Konzertes, Video: twofinedays.
Genauso integriert sich die Violinistin Chung Kyung-wha in das Spiel des Orchesters. Während diese am Anfang des zweiten Satzes als Dirigentin in Erscheinung tritt, dabei jedoch nicht den Blickkontakt zu den anderen Musikern sucht, nimmt sich Anne Sophie Mutter deutlicher zurück: Mit einigen wenigen Handbewegungen malt sie die ersten Striche zum Gemälde des zweiten Satzes und stellt eine Blickverbindung zu den übrigen Musikanten her. Später fällt auf, dass Anne-Sophie Mutter immer wieder mit verschiedenen Solisten interagiert, besonders mit einem Cellisten.
Man verzeihe mir an dieser Stelle den Vergleich: Den Stich eines Insektes merkt man fast immer dann, wenn es schon geschehen ist, dann aber deutlich, so ähnlich beginnen Chung Kyung-wha und Mutter das Adagio des E-Dur Violinkonzertes. Sie heben an, unhörbar, ganz leise, doch dann vernimmt der Zuhörer das dreigestrichene E.
Programm am 3. Juni in der Seouler Kunsthalle
Bela Bartok (1881 1945): Divertimento Sz 113
I Allegro non troppo
II Molto adagio
III Allegro assai
Violinkonzert E-Dur BWV 1042, 2. Violinkonzert (Johann Sebastian Bach, 1685 1745)
Allegro
Adagio
Allegro assai
Die vier Jahreszeiten op. 8, Nr. 1 – 4
Antonio Vivaldi (Venedig 1678 – Wien 1741)
1. Konzert La Primavera – Der Frühling
Allegro
Largo e pianissimo
Allegro
2. Konzert: L’Estate – Der Sommer
Allegro non molto
Adagio
Presto
3. Konzert: L’Autumno – Der Herbst
Allegro
Adagio
Allegro
4. Konzert: L’Inverno – Der Winter
Allegro non molto
Largo
Allegro
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