Im Untergrund

Oft fahre ich mit der Sôuler U-Bahn. Die Fahrgäste sind meistens recht diszipliniert, wie ich bereits geschrieben habe. Für ältere Leute, Schwangere und für Frauen mit Kindern macht man gerne Platz.  Ältere Damen bieten sich auch an, einem die Tasche zu tragen. Sie legen diese auf ihren Schoß.

Was fällt sonst auf, wenn von der U-Bahn in Sôul die Rede ist? In der Regel ausreichend Platz, saubere Gänge und Sitzplätze, ein recht dichtes Verkehrsnetz, schneller Takt, angenehme Hinweise in musikalischer Form auf Aus- und Umstiegsmöglichkeiten, recht saubere Toiletten ohne Eintrittsgebühr – also: kein lautes Gedudel musikhörender, rebellierender Teenager, kein „Scratching“ (Zerkratzen von Scheiben, wie es in deutschen Bussen und Bahnen leider üblich geworden ist), keine verschmierten Wände, keine Schuhe auf den Sitzpolstern, nur sehr wenige provozierende Verhaltensweisen.

Sardinen in der Dose

Dennoch: Einige Dinge fallen mir unangenehm auf, es sind nicht nur die seltsamen, manchmal strengen und beißenden Gerüche, die ich in einem
anderen Eintrag bereits behandelt habe. Zunächst ein Mal: Die Koreaner können schlecht warten. Hält die U-Bahn in europäischen Städten, lassen die draußen wartenden Personen erst ein Mal die Aussteigenden heraus. Die draußen wartenden Koreaner aber gehen dann in die U-Bahn, sobald jemand aussteigt! Man kommt nur durch eine schmale Gasse nach draußen, und gehört man zu den letzten, die aussteigen, kann es passieren, dass die nun Einsteigenden einen wieder zurückdrängen.

Das ist leicht der Fall, wenn die U-Bahn am Samstagabend an der Station „Seoul Racecourse Park“ hält. Die Männer, seltener Frauen, müde vom Schauen der Pferderennen, strömen dann in großen Gruppen in die U-Bahn Wagen, auch wenn die Bahn vorher fast schon mit Menschen überquillt. Die Eintrömenden, manchmal in Soju- und Koblauchwolken eingehüllt, üben dann so einen großen Druck aus, dass sie die vor ihnen Verweilenden wie die sprichwörtlichen Sardinen in der Dose zusammenquetschen. Wehe dem, der bald aussteigen muss, wenn ihn diese stampfende Welle in das Innere des Wagens abdrängt! Dann ist oftmals kein Vorwärtskommen zum Ausgang mehr möglich. Und man muss manchmal eine Station weiter fahren als man eigentlich wollte, weil Menschen den Ausgang versperren.

Die Wege des Herrn sind gerade

Männer nehmen gerne viel Platz für sich in Anspruch. Fast immer sitzen sie breitbeinig auf den Bänken. Gelegentlich lassen sie einen halben Sitzplatz neben sich frei, so dass sich die Wahrscheinlichkeit verringert, dass sich jemand neben sie setzt, denn niemand möchte in einer schmalen Lücke sitzen. Ein Mal saß mir ein solcher Mann gegenüber, ich empfand es als unflätig, wie er sich mit gespreizten Beinen in der Bank flegelte und dabei in sein Mobiltelefon quasselte. Die Frauen sind dagegen zurückhaltend. Sie halten ihre Beine geschlossen, und meistens liegt eine Tasche auf ihrem Schoß.

Auch erlebe ich bei Frauen sehr selten bestimmte Verhaltensweisen, die bei koreanischen Männern in der U-Bahn üblich sind: Männer gehen gerne ihren geraden Weg. Wenn ihnen jemand scheinbar den Weg versperrt – oft ist immer noch genügend Platz zum Ausweichen -, gehen sie nur einen Teil zur Seite, streifen die andere Person aber, oder rempeln diese an, nach dem Motto: Deine Schuld! Wärst du mir aus dem Weg gegangen, wäre dir dies nicht passiert! Dabei hätten sie bequem an dieser Person vorbeigehen können, aber die Wege des Herrn sind gerade. Auch lassen sich Männer einfach, ohne zu gucken, ob sie jemanden berühren, auf einen freigewordenen Sitzplatz flatschen.
Sobald ein Sitzplatz frei wird, setzt um ihn ein Wettrennen ein. Der Sieger setzt sich dann stolz nieder. Ich bleibe häufig in solchen Situationen stehen. Denn es steht sich oft bequemer. Im Stehen ein Buch zu lesen kann auch angenehmer sein als dicht gedrängt auf einer Bank sitzend.

Auf eine Sitzbank der U-Bahn passen etwa sieben bis acht Personen. Plätze sind begehrt, wenn sie sich am Anfang und am Ende einer Sitzbank befinden. Wird ein solcher Platz frei, rücken die in der Nähe Sitzenden auf – wie beim Mensch ärgere dich nicht Spiel  – und setzen sich auf diesen freigewordenen Platz. Offenbar ziehen es viele Koreaner vor, nur einen Nachbarn zu haben.

Auch als Ausländer ist es nicht immer ganz angenehm in der U-Bahn, gelegentlich haften seltsame Blicke auf mir, man betrachtet mich wie ein fremdes Wesen. Kinder zeigen auf mich oder starren mich an. Manchmal reden mich Menschen höflich an, manchmal quatschen sie mich an, kürzlich hatte dabei jemand noch Essensreste am Mund kleben, offenbar war er zudem noch etwas angeheitert. Aber was solls, die Plauderei mit ihm war ganz nett. Fast immer reden Koreaner, die mit der U-Bahn fahren, Ausländer, die westlich aussehen, in Englisch an. Viele Koreaner denken, dass es zwei Typen von Ausländern gibt: Die einen kommen aus Asien – hier differenzieren die Koreaner sehr wohl, ob jemand aus China, Japan, Vietnam, den Philippinen oder Thailand kommt, oder sie kommen eben aus einem großen, westlichen Englisch sprachigen Land.

„Sind Sie Amerikaner?“ „Nein“. „Dann kommen Sie aus Kanada?“ „Nein.“ „Woher kommen Sie denn dann?“ „Aus Deutschland“. „Heil Hitler!“. Diesen Gruß habe ich schon einge Male gehört, als ich meine Nationalität kundgab; ein Koreaner erhob sogar dabei den rechten Arm zum Hitlergruß. Was soll ich tun? Ich lächele. Dies ist aber noch recht harmlos. Tätliche Angriffe gegen Ausländer in öffentlichen Verkehrsmitteln, wie sie in europäischen Ländern gelegentlich vorkommen, habe ich hier noch nicht erlebt.

Menschen auf dem Laufsteg

Eine ältere Frau schreitet zielbewusst in das Innere des U-Bahn Abteils. Deutlich fängt sie nun zu sprechen an, wie in Trance. Sie hält eine Predigt, spricht beschwörend und möchte die Anwesenden zum Christentum bekehren. Einige Zeit später schreitet ebenso zielsicher ein junger, dynamischer Mann durch den U-Bahn Wagen. Neben sich stellt er seinen Rollkoffer ab. Dann hebt er an zu sprechen, deutlich, schnell und geübt. Schließlich langt er in seinen schwarzen Koffer und fischt dort einige Nylon-Strümpfe heraus, die er dem Publikum zeigt. Ich kann seine Rede kaum verstehen; doch ich denke, dass er die besonderen gesundheitsspezifischen Vorzüge dieser Strümpfe vorführt und auf deren günstigen Preis zu sprechen kommt. Tatsächlich verkaufen solche fliegenden Händler vieles äußerst preiswert im U-Bahn Wagen: Rasierapparate (auch elektrische), Hüllen für Ventilatoren, Atemschutzmasken, Schraubwerkzeuge für Computer, Gummiestücke, die sich verformen lassen, Pflaster, Regenmäntel und Schirme – wenn es gerade am regnen ist, Taschenlampen, zusammenfaltbare Koffer, Musik-CDs und und und …

Das Verkaufen von Musik CDs läuft meistens nach demselben Schema ab: Ein Verkäufer betritt den U-Bahn Wagen, auf seinem fahrenden Koffer hat er seinen Ghettoblaster montiert. Er spricht zunächst nicht, schaut aber bedeutungsvoll in die Tiefen des Raumes und lässt dann die Musik etwa zwei Minuten laut ertönen. Oft handelt es sich um eine gefühlige oder schmalzige koreanische Ballade, um flotte koreanische Folk-Stücke oder um einen eingängigen, basslastigen „Pap-Song“ (Die Koreaner sagen nicht „Pop“, sondern „Pap“): der ist in 99% der Fälle in Englisch – als ob es keine Pop-Songs in anderen Sprachen gäbe. Jemanden, der klassische Musik in der U-Bahn verkauft, habe ich bisher noch nicht gesehen.

U-Bahn


Linie 1, auf dem Weg nach Byôngchôm

Dann fängt unser Verkäufer an zu sprechen und stellt kurz den Inhalt des Paketes vor. Es handelt größtenteils um eine Zusammenstellung mehrerer CDs. Er nimmt einige CD-Pakete in die Hand und geht durch den Wagen. Einige Fahrgäste fingern nun nach ihren Geldbörsen und kaufen das dargebotene CD-Päckchen. Es kostet in der Regel zwischen 5000 und 10000 Won, also nicht mehr als etwa sieben Euro. Dabei scheint die Klangqualität recht gut zu sein.

Vor einigen Monaten las ich einen Zeitungsartikel eines Ausländers. Er meinte, die Händler könnten sich in der U-Bahn eine goldene Nase verdienen. Den Eindruck habe ich allerdings nicht. Vielmehr glaube ich, dass es allein durch die Verkäufe in der U-Bahn sehr schwer ist, seinen Lebensunterhalt in dieser teuren Stadt zu bestreiten.

Man sieht aber auch immer wieder Bettler durch die Abteile ziehen. Dies habe ich bisher in anderen U-Bahnen, etwa in Berlin, Köln, München, Prag, Paris oder London nicht beobachtet. Langsam und andächtig schreitet jemand durch den Wagen, so, als ob er auf einem Laufsteg nach Beifall strebte, dabei gemessen einen kleinen Spendenkorb vor sich hertragend. Selten quatscht der Bittende fordernd die Fahrgäste an, er verhält sich eher höflich, verzieht nicht die Miene, wenn er keine Spende erhält, sagt aber laut „danke“ nach erhaltener Gabe, auch wenn „nur“ kleine Münzen in sein Behältnis fallen. (Die Münzen haben im Schnitt einen geringeren Wert als die Euro- und Cent-Münzen. In Deutschland dagegen erntet derjenige manchmal böse Blicke, der „nur“ Münzen gibt.)

Heute humpelte jemand durch das Abteil und teilte, wie dies öfter der Fall ist, Blätter aus, Kopien; dort war offenbar kondensiert seine Lebens- und Leidensgeschichte zu lesen. Er legte diese Blätter den Fahrenden sanft auf die Beine oder auf die Taschen, machte seine Runde, kniete sich hin, schilderte sein Leiden und sagte, er wolle auch Kaugummies verkaufen. Er ging nun weiter, sammelte die Kopien wieder ein und hoffte auf Geldeinnahmen. Tatsächlich kauften ihm zwei Fahrgäste Kaugummies ab.

Vor einiger Zeit trottete eine Frau durch die U-Bahn, ihr Gesicht war vollkommen entstellt, es sah wirklich furchtbar aus; offenbar hatte sie schwere Verbrennungen erlitten. Sie trug ihren Geldkorb vor sich, und ein Gefährte folgte ihr. Im Zwei-Sekunden Abstand sagte sie „Schillähamnida“ (Entschuldigung). Dann stellte sie sich mit dem Gesicht zur Wand an das Ende des Wagens und verharrte dort mehrere Minuten regungslos.

Wem geben?

Manchmal sieht man zwei – sich aneinander festhaltende – Personen hintereinander her schreiten. Dann handelt es sich in der Regel um zwei Blinde. Ist eine Frau dabei, geht diese meist vorne, ertastet dabei mit einem kleinen Stab, ob niemand im Weg steht. In vielen Fällen tragen die auf diese Weise Bittenden einen Radiorekorder. Während sie also durch den U-Bahn Wagen schreiten, ertönt von ihrem Gerät koreanische Volksmusik oder auch nur ein verwaschenes elektronisches Gedudel. Sehr selten singt jemand etwas. Vor einiger Zeit sah ich einen Greis, der kaum noch Zähne hatte. Er spielte auf seiner Mundharmonika nur zwei Töne im Septim-Abstand, die Dissonanz war schrecklich, dennoch schaute er immer wieder erwartungsvoll auf die Fahrgäste, und er war offenbar auch enttäuscht, weil ich ihm nichts gab. Manchmal gebe ich ihnen kleine Geldscheine. Doch wer so grässlich spielt? Ich bin oft beschämt.

Immanuel Kant soll Bettlern nie etwas gegeben haben, dafür soll er regelmäßig an Königsberger Wohlfahrtseinrichtungen gespendet haben. Friedrich Nietzsche macht in einer seiner Schriften, ich glaube, es ist in „Also sprach Zarathustra“, darauf aufmerksam, dass man Bettler „abschaffen soll“. Wenn man ihnen etwas gebe, ärgere man sich – auch wenn man ihnen nichts gebe. Doch wie verhalte ich mich? Ich weiß es nicht. Eine gewisse Freiheit zu haben, das ist mir wichtig. Den koreanischen Son-Mönch und Gelehrten, Misan Sunim, den ich ein Mal für die Zeitschrift „Buddhismus aktuell“ interviewte und dabei fragte, wie er sich verhalte, wenn er an einem Bettler in Sôul vorbei gehe, meinte, dass er die Situation einschätzen könne. Dann gebe er etwas oder auch nichts. Er merke, wenn jemand etwas braucht oder wenn jemand nur etwas vorspielt.

Ich weiß jedenfalls, dass es einen recht schnell erwischen kann. Heute ist man noch in der potentiellen Spenderposition, morgen kann man sich schon „auf der anderen Seite“ befinden. In Köln traf ich vor einigen Jahren einen gut angezogenen und frisch aussehenden Mann in der Nähe des Friesenplatzes. Er sagte mir, er lebe auf der Straße. Vor kurzem habe er noch in einer geräumigen Mietwohnung residiert. Doch er habe seine Arbeitsstelle verloren, habe dann Ärger mit seiner Freundin bekommen und letztendlich sei ein Kündigungsschreiben in seinen Briefkasten geflattert, als er die Miete nicht mehr zahlen konnte. Nun lebe er eben auf der Straße. Er wolle sich aber dennoch nicht gehen lassen und lege Wert auf ein gepflegtes Äußeres.

Vor zwei Wochen sah ich vor dem Sôul Bahnhof einen älteren Mann neben ein paar Plastik-Tüten stehen. Ich ging in Richtung der Treppen, die zum U-Bahn Schacht führen und dachte mir nichts weiter dabei, als ich ihn anlächelte. Er lächelte zurück. Ich ging an ihm vorbei und, plötzlich von einer gewissen Neugier gepackt, drehte ich mich zu ihm um: Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich schlagartig. Offenbar hatte er fest mit einer Spende gerechnet.


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