Der Konsument liebt saubere Lebensmittel. Aber muss wirklich jeder Keks in einer Schachtel einzeln abgepackt sein? Auch koreanische Spezialitäten – in Europa gingen sie als Pralinen durch – sind in säuberlich voneinander getrennten, kleinen Klarsichthüllen abgepackt. Man stelle sich eine Lindt-Pralinenschachtel vor, prallgefüllt mit Pralinen, alle in Kunststoffverpackung. Wäre das lecker? Läuft etwa das Wasser im Munde zusammen beim Anblick einer in Plastik verpackten Praline? Mir jedenfalls nicht. Es sind nicht nur kleine Leckereien, die Koreaner gerne eintüten: auch Obst und Gemüse, einerlei ob Äpfel, Auberginen oder Pilze, sie fristen ihr begrenztes Dasein in engen Plastikhüllen. Was dem Deutschen besonders ins Auge sticht: Der Verpackungswahn macht auch vor Brot und Teilchen nicht halt. Der ohnehin meist fade Geschmack der Teigwaren aus französisch stilisierten Backwarenläden wird dadurch sicher nicht erträglicher. Ofenfrische Croissants sind leider sehr dünn gesät in Seoul – von Brötchen oder dunklerem Brot ganz zu schweigen. Ist es wirklich lecker, ein warmes und knuspriges Croissant oder ein Mohnbrötchen aus einer Plastiktüte zu fischen?
Beliebt sind auch Mehrfachverpackungen: Mehrere kleine Plastikmilchtüten, an größeren Milchtüten mit Plastikbändern festgezurrt, zieren die Kühltheken. Kekse liegen einzeln verpackt in einer Plastikhülle, diese ist wiederum mit mehreren anderen nach dem Babuschkaprinzip Bestandteil von größeren Tüten und so weiter …
Ofenfrische Croissants in Plastiktüten
Korea hat China sicher einiges voraus, was den Umweltschutzgedanken betrifft. Dennoch: Entweder leugnen oder verdrängen die Koreaner den Wunsch nach einer sauberen Umwelt, oder sie hegen unrealistische Vorstellungen: Technik, Wachstum, Autos, Industrie, Wohnparks und das am besten alles im Grünen. Was den Glauben an (die Notwendigkeit von) Verpackungen anbetrifft, befindet sich Korea da, wo die europäischen Staaten in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren: Die meisten Produkte kommen in Plastikhüllen; Pfandflaschen sind Mangelware. Ich kann mich nicht erinnern, bis dato Milchflaschen oder Joghurtgläser gesehen zu haben. Daneben stehen noch eine Menge kleiner Getränke-Flaschen, in die etwa 100 ml passen, zum Verkauf bereit, wohl für die „Erfrischung zwischendurch“. Aber wieso ist es erforderlich, mit dem Inhalt einer ganzen Flasche den kleinen Durst „zwischendurch“ zu stillen, reicht dazu nicht ein Schluck aus der 1 Literflasche? Oder braucht der Konsument die Illusion, sich wieder einer Sache erfolgreich bemächtigen zu können?
An der Kasse muss der Käufer für Plastiktüten nur einen kleinen Obolus entrichten, 50 Won, weniger als 5 Cent, das tut nicht weh und hält von Verschwendung kaum ab. Vielleicht wollen die Koreaner so zeigen: Wir haben es geschafft, wir gehören zu den führenden Industrieländern, und das zeigt sich darin, dass wir einfach alles einpacken (können).
Langsam hat man dagegen in Europa dazu gelernt, Geschäfte weigern sich, alles zu verpacken, sie werfen ihren Konsumenten die Tüten nicht mehr hinterher. Diese nehmen gerne auch Körbe, Rucksäcke oder Jutesäcke zum Kaufen mit – oder ihre gebrauchten Plastiktüten.
Der Verpackungswahn stellt nicht nur ein ästhetisches oder logistisches Problem dar. Nicht nur die Gefahr der Landschaftsverschandelung oder die überquellender Müllhalden droht. Plastikverpackungen sind auch ungesund. Eine wenig bekannte Wirkung: Wie künstliche Hormone im Fleisch können sie zu Regelschmerzen beitragen. Darüber kam im koreanischen Fernsehen vor einigen Monaten eine Sendung.

Eingehüllter Ordner: Christo lässt grüßen
Der Gipfel des Verpackungswahnsinnes: Ein einzelner, kleiner stabiler Hefter aus Plastik! eingepackt in eine Plastikhülle.
Will die Stadtverwaltung ihre Bürger erziehen?
Wohin also mit den ganzen Verpackungen? Der Europäer denkt: in die Mülltonne damit! Aber erst ein Mal eine finden in Seoul. Oft ist weit und breit nichts zu sehen von Mülltonnen. Mir ist unbekannt, was sich die Stadt denkt, so wenige Mülltonnen aufzustellen. Will sie ihre Bürger erziehen, weniger Müll zu produzieren oder gar dazu, ihre Abfälle immer mit nach Hause zu nehmen? Solche Musterbürger sind leider selten. Die Koreaner halten ihre Wohnungen sauber. Hier könnten Europäer etwas lernen: Es besteht Schuh-auszieh-Zwang. Wehe dem, der ungefragt, mit seinen Gamaschen eine fremde Wohnung betritt! Er ist zwar nicht des Todes, erntet aber böse Blicke und wird sofort ermahnt.
Der Koreanen liebt also eine saubere Wohnung, doch was den Schutz öffentlicher Güter betrifft, verhält er sich leider oft weniger rücksichtsvoll. Als stolzer Besitzer eines Wagens oder als Fahrer eines Busses oder Lkws, lässt er gerne seinen Dieselmotor lange laufen, auch wenn der Wagen nur steht. Dieses Bild fand sogar Eingang in ein Drama, welches das koreanische Fernsehen gestern ausstrahlte. Ein Paar hat etwas Wichtiges zu besprechen. Das Paar setzt sich in den stehenden Wagen, dessen Motor läuft, und verbleibt dort erst eine ganze Weile, bevor der Mann endlich losfährt.
Die Folge der fehlenden Mülleimer: Die Leute werfen ihre Abfälle auf die Straße oder in irgendwelche Ecken. In der Regel ist Seoul oder dessen Umgebung recht sauber, doch es gibt einige Plätze und Straßen, die leider zugemüllt sind.
Das gesellschaftliche Zusammenleben scheint hier umgekehrt wie in Mandevilles Bienenfabel („Private Vices, Publick Benefits“) zu sein, zumindest was den Umweltgedanken betrifft: Die Leute glauben im Privaten an ihre Vorteile, und verfallen in der Öffentlichkeit dem (Umwelt)Laster.

Straßenecke in Dongtan
Der Verfasser lichtete diese Ecke mittags ab. Am selben Tag war abends von dem Müll nichts mehr zu sehen, einige Leute hatten im Laufe des Tages den Krempel entfernt und dafür Pflanzenkübel in die Ecke gestellt. Hat das Beobachten gewirkt?
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