Zerstört Mangel an gemeinsam verbrachter Zeit eine Beziehung?

Wer lange in einem Land lebt, darf sich nicht wundern, dass sich die Beziehungen zu den Menschen, die ihm in diesem Land vertraut waren, verändern, wenn er woanders lebt, weit entfernt. Nehmen wir an, eine Person lebt die längste Zeit ihres Lebens bis zum Zeitpunkt t in einem Land A. Später lebt diese Person ab t für einige Jahre in einem anderen Land B, einige tausende von Kilometern von A entfernt. Was lässt sich dann sagen über die Beziehungen dieser Person zu den ihr nahe stehenden Menschen in A?

Sicher, mittlerweile gibt es verschiedene Möglichkeiten der Verständigung, vom altmodischen Briefeschreiben über das Verfassen von E-Mails und das Telefonieren bis zum Chatten mit Kamera. Unsere Person kann also einige Beziehungen zu Menschen in A auf andere Weise fortführen. Doch der unmittelbare, mit verschiedenen Sinnen erfahrbare Kontakt, den sie hatte, reißt ab, wird zumindest seltener.

Doch was folgt daraus? Eine einfache Regel besagt, dass sich Personen, umso attraktiver finden, je mehr sie sich sehen. Aber sagt diese Regel etwas über die Qualität einer Beziehung? Ließe sich ebenso behaupten, dass Beziehungen umso gehaltvoller und tragfähiger sind, je mehr die beiden Partner etwas miteinander unternehmen? Wenn dem so wäre, würde wohl die Beziehung derjenigen, die sich nur am Wochenende treffen, um, sagen wir, sich auszutauschen, zu spielen, spazieren zu gehen, gemeinsame Freunde zu treffen oder Theaterstücke zu sehen, schlechter abschneiden als die derjenigen, deren gemeinsame Zeit sich darauf erstreckt, jeden Abend einige Stunden im Wohnzimmer zusammen zu sitzen und dabei stumm das abendliche Fernsehprogramm zu konsumieren. Andererseits: Es mag durchaus sein, dass einige Menschen sich schweigend näher kommen – etwa im Rahmen eines gemeinsam verbrachten Besinnungswochenendes – als durch viele Worte.

Sicher können einige Beziehungen unserer Person verarmen oder absterben, lebt doch so manches Feuer von schnell brennbaren Materialien; wer sich in einer kurzlebigen Zeit nicht ständig in Erinnerung ruft, nicht dauernd etwas nachlegt, bringt damit eine solche Beziehung sozusagen zum Erlöschen. Andere Verbindungen brauchen diese leicht entflammbaren Brennmaterialien nicht, sie leben weiter und ermöglichen auch ein großes Maß an Vertrautheit, wenn man sich nur selten sieht, dabei aber zum Wesentlichen kommen kann.

Im täglichen Miteinander mit vertrauten Menschen ist es nicht selten sogar so, dass erst ein gewisser Abstand die Gemeinsamkeit fördert. Vorübergehende Trennungen, die sich auch zu unbehinderter Muße nutzen lassen oder dafür, liegen gebliebene Dinge ohne Interventionen zu bearbeiten, können wieder neues Leben in eine Beziehung bringen. Die selbst auferlegte Forderung, alles gemeinsam zu erleben oder aus demselben Blickwinkel zu betrachten, kann eine Beziehung lahm legen.


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